18.06.2010 / 13:41 / Monika Scheele Knight liest: Klagenfurttexte
"Mensch, kriech raus! Deine Mauken will ich nicht auf meinem Bauch."
Fast möchte ich schon auf S. 48 ein abschliessendes Radisch-Urteil fällen: ein Text, in dem Mauken vorkommen, kann kein schlechter Text sein. Da der Roman aber auch jenseits der Erwähnung von Mauken sehr schön ist, lese ich gerne weiter. "Hinter ihnen war das Dorf Eldena, dessen Klosterruine Caspar David Friedrich gemalt und so die Deutsche Romantik begründet hatte. Natürlich nicht in Greifswald. Ich ahnte, dass man Greifswald verlassen muss, um etwas zu verwirklichen. Muss ich Greifswald verlassen, dachte ich und sah kurz auf die Aktfotos, dann wieder auf die Zweige des Setzlings, die versuchten, die Aussicht auf den Innenhof zu verbessern."
Das ist alles richtig gut erzählt, lakonisch und doch nah, in den Schilderungen der versoffenen Väter und Stiefväter sehr, sehr beklemmend, immer wieder unter Einbeziehung des überzeugend eingearbeiteten Ausschneidethemas. "Vielleicht musste man manchmal den Hintergrund behalten und die Figur wegwerfen", heisst es nach einer furchtbaren Konfrontation mit dem Stiefvater. "Die Menschheit hat zwei grosse Feinde: den Krieg und die Sucht. Das Leben besteht aus beidem, so viel ist sicher. Ein Drittel Krieg, ein Drittel Sucht und ein Drittel von Etwas, von dem ich nichts weiss." Das Ausschneidethema funktioniert nicht nur in Bezug auf Figuren, sondern auch in Bezug auf ein ganzes Land, die verschwindende DDR: "Tränen stiegen mir in die Augen, weil ich begriffen hatte, dass mein Vaterland gerade aus der Karte geschnitten wurde, während ich hier stand. Etwas anderes würde schon darüber geklebt werden; etwas, das aussah wie Sylt. Aber Sylt würde es niemals sein."
Man erfährt detailliert, wie das Heizen der Reichsbahndirektion funktioniert und komischerweise ist selbst das interessant, ein weiterer Beweis dafür, dass einen alles interessiert, solange es nur gut erzählt ist.
Auf der Fregatte 'Bremen' macht der Protagonist dem Neuankömmling Richard klar, was es heisst, Wehrpflichtiger zu sein: "Wir setzten uns in die Offene Registratur und warteten auf die Unteroffiziere und auf den Wachtmeister. Als Wehrpflichtiger erledigte ich keinen Handschlag selbständig und übernahm keinerlei Verantwortung. 'Wehrpflichtiger zu sein', hatte ich zu Richard gesagt, 'ist, Urlaub vom Leben zu haben.' Er verstand."
Wegen des Spiels Brasilien-Nordkorea muss ich bei Altwassers DDR die ganze Zeit an Nordkorea denken. Ein Freund von mir, in der DDR aufgewachsen, ist vor ein paar Jahren mit einer Reisegruppe nach Nordkorea in Urlaub gefahren, um sich anzusehen, wie so etwas heute noch geht. Nach Nordkorea kann man nur mit einer angemeldeten Gruppe reisen und vorher muss man bestimmte Sachen bezahlen, wie zum Beispiel 40 Euro oder so für einen Kranz, der an einem Denkmal für Kim Il-sung niedergelegt wird. In Pjöngjang besichtigte die Gruppe einen Park. In dem Park gingen Familien spazieren, Kinder spielten, wie man sich das von einem Park am Sonntagnachmittag vorstellt. Irgendwann wurde die Reisegruppe zum Bus zurückgebracht, der Reiseleiter sah hektisch auf die Uhr, da bemerkte mein Freund, wie sich die Menschen im Park alle an einer Stelle zusammenzogen und gemeinsam den Park verliessen. Er filmte das Ganze heimlich, während er in den Bus stieg. Gespenstische Aufnahmen, es sieht so aus, als wären die Menschen für einen bestimmten Zeitraum beordert worden, der Reisegruppe 'glückliche Familien im Park' vorzuspielen.
Irgendwann wechselt der Erzähler vom Ausschneiden zum Aufschreiben: "Aufschreiben war wie aus dem Erzählten etwas auszuschneiden; quasi aus Nichts Bilder zu machen; vielleicht sogar aus Scheisse Bonbons!"
Die FAZ macht auf dem Cover von "Wie ich vom Ausschneiden loskam" ostdeutschen Neorealismus à la "Halbe Treppe" aus, das geht in Ordnung, ein bisschen erinnert es mich tatsächlich sogar an "Müller haut uns raus", aber solche Vergleiche sind ja sinnlos. Die letzten zehn Seiten fallen raus aus dem Buch, Sopran hat recht, zu larmoyant, das ist plötzlich eine ganz andere Perspektive, die nicht reinpasst.
Prädikat trotz des abfallenden Endes: Mein erster Lichtblick der diesjährigen Bachmannvorbereitung. Wenn der Text für den Bewerb nur annähernd so unterhaltsam und gut geschrieben ist wie dieser Roman, wird Volker Harry Altwasser einen der Preise mit nach Hause nehmen, so weit würde ich mich aus dem Fenster lehnen, wenn ich nicht eh schon auf der Terrasse sässe. Allerdings habe ich ja auch erst Rossbacher und Schmidt als Vergleichsgrundlage.
Monika Scheele Knight / Dauerhafter Link
16.06.2010 / 09:55 / Monika Scheele Knight liest: Klagenfurttexte
Wir haben: einen kurzen Stalking-Fall (Lutz verfolgt Monika), noch einen kurzen Stalking-Fall (Frau Hoffmann und der fremde Mann), Impressionen aus einem Zug ("Und der Zug fährt schnell, viel zu schnell, er fährt hinein in die Nacht und reisst die Fahrgäste in seinem Innersten mit sich fort"), Herrn Meier, der ein Preisausschreiben gewinnt, Herrn Robinson, der an einer Lähmung ungeklärter Ursache stirbt, Hannah, die die Scheidung von Martin mit Hilfe von Freundin Claudia verkraftet, die Schwestern Marie und Silvie, die gemeinsam zur Kur fahren ("Maries Augen funkelten freudig") und in der ersten Geschichte den längsten der Stalking-Fälle, eine alternde Jungfer, die einem Kind nachstellt und das verborgene Talent dieses – wie sich herausstellt – zutiefst einsamen Kindes entdeckt, dessen Mutter den ganzen Tag arbeitet.
'Unfähige, weil arbeitende Mütter' sind nun wirklich ein Topos, den die Welt nicht braucht. Das ist so reaktionär: die böse Mutter geht arbeiten, das Kind vereinsamt und stürzt am Ende aus dem Fenster. Wenn Frauen so über Frauen schreiben, dann brauchen sie keine anderen Feinde mehr. Diese Erzählung deutet allerdings auf ein Problem hin: die häufig mangelnde Qualität der Texte von Frauen im Bewerb (Ausnahme: Kathrin Passig), ein Problem nicht nur im deutschsprachigen Raum, ich übersetze mal kurz, was Jessa Crispin mit Blick auf den Orange Prize in ihrer neuesten Smart-Set-Kolumne Plotting Along schrieb:
"Es hat bisher nur zwei Generationen von Frauen gegeben, die mit eingeschränkten Barrieren aufgewachsen sind, und ich sage bewusst 'mit eingeschränkten Barrieren' und nicht 'ohne Barrieren'. Zwei Generationen von Frauen, die ihre Fruchtbarkeit kontrollieren konnten, arbeiten, ein hohes Bildungsniveau erreichen, tatsächlich ihr Leben planen und gestalten. Natürlich gab es immer schon Ausnahmen, aber finanzielle Abhängigkeit, Angst vor Vergeltung und sozialer Ausgrenzung sowie ein fehlendes Unterstützungssystem erlaubten nur den ganz mutigen und konfrontativen Frauen ein unabhängiges Leben, oder man musste eben einfach nur Glück gehabt haben. Darum gibt es Romane von Edith Wharton, damit wir das verstehen."
"Weil Frauen also wenige Vorfahren haben, an denen sich sie orientieren könnten, sind sie immer noch dabei herauszufinden, wie sie ihr Leben gestalten sollen, was sie am glücklichsten macht, ob sie sich am traditionellen Weg der Männer orientieren sollen oder ob es andere Wege des Lebens für sie gibt. Schriftstellerinnen sind auf der Suche nach dem Platz, den eine Frau in der Welt einnehmen kann, und Leserinnen kaufen aus genau diesem Grund ihre Bücher. [...] Es gibt in der Fiktion immer noch grosse Lücken weiblicher Erfahrung zu füllen. Das kann Schriftstellerinnen eine Inspiration sein, wie man zum Beispiel an 'The Room and the Chair' von Lorraine Adams sieht. Der Roman ist voll von aggressiven, verrückten, nuttigen, heldenhaften, unterdrückten weiblichen Jagdfliegerinnen, Reporterinnen, Ehefrauen und minderjährigen Prostituierten."
Lorraine Adams mit ihren diversen weiblichen Charakteren ist heute immer noch eher eine Ausnahme, in den Romanen und Texten von Frauen finden sich zu grossen Teilen traditionelle Rollenbilder, oder noch schlimmer, wie in diesem Erzählband von Iris Schmidt in der ersten Erzählung "Der Junge mit den schwarzen Augen": wenn die Tradition gebrochen wird, indem die Mutter arbeiten geht, wird sie prompt dafür bestraft und das Kind stirbt.
Die Texte in dem Erzählband haben alle etwas sehr Didaktisches, da liegt man beim Lesen plötzlich wieder in den Achtzigern im Garten der Eltern und muss Peter Bichsel für den Deutschunterricht lesen, nur dass es schlechter als Peter Bichsel ist, phlegmatisch und trist wie Bichsel, aber dabei noch so bedeutungsschwanger und moralisierend. Zugute halten kann man den Erzählungen nur, dass sie ein wahrer Jungbrunnen sind, indem sie einen so intensiv zurücktragen in eine verlorene Zeit. (Aber will man das?)
Wenn man von den letzten zwanzig Jahren spricht, dann gewöhnlich von der Veränderung des Ostens, das liegt natürlich auch nahe, aber wenn man diesen Erzählband liest, wird einem bewusst, dass sich auch der Westen sehr verändert hat: diese Bundesrepublik, in der wir in den Siebzigern und Achtzigern im Westen gross geworden sind, die gibt es auch nicht mehr. Das Verstörende an dem Erzählband ist nur, dass er 1997 erschienen ist und nicht 1987 oder 1977. Erstaunlich, wie sehr die Erzählungen sieben Jahre nach der Wiedervereinigung noch "alte Bundesrepublik Westdeutschland" atmen. Dreizehn Jahre später darf man hoffentlich auf etwas anderes beim Bewerb hoffen (es war das einzige Buch, das die AGB von Iris Schmidt hatte).
Verena Rossbacher und Iris Schmidt sind ein denkbar grösster Gegensatz. Mir war das eine zu albern und das andere zu altbacken, vielleicht auch ein Indiz für das, was Jessa schreibt: Frauen sind noch auf der Suche.
Offene Frage: Im Katalog der Amerika-Gedenk-Bibliothek, in der ich meine zehn vorbereitenden Bachmannbücher ausgeliehen habe, finden sich unter Iris Schmidt auch die Bücher "Kräuter, Gewürze und Heilpflanzen" und das "Lexikon der Heilpflanzen": Ob das dieselbe Iris Schmidt ist?
Monika Scheele Knight / Dauerhafter Link
15.06.2010 / 13:47 / Monika Scheele Knight liest: Klagenfurttexte
Es ist natürlich überhaupt nicht Verena Rossbachers Schuld, wenn ich Satzzeichen zum Lesen brauche, das muss ich vorausschicken. Es ist meine eigene Schuld, wenn ich neben dem Lesen das Kind bade und darum dem Auseinanderhalten von Fliesstext und Dialog keine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken kann. Das kann man Verena Rossbacher nicht anlasten, aber generell finde ich es als Leserin schon schön, wenn mir ein Autor ein bisschen hilft.
Nundenn, ich habe dann weitergelesen, als das Kind im Bett war, "Verlangen nach Drachen" heisst Rossbachers Roman. Er wird bevölkert von lauter kauzigen Typen, so ein ganz kleines bisschen muss man an Herrn Lehmann denken, liegt auf der Hand bei der ersten Szene, die in einem Lokal spielt, dessen Besitzer die Tür offen lässt, aber alle Gäste wegschickt, nur sind die Charaktere bei Sven Regener ja gerade nicht wirklich kauzig, oder nur so ein kleines bisschen, die bleiben einem dabei immer sehr vertraut, und diese Balance stellt sich in "Verlangen nach Drachen" überhaupt nicht ein. Soll sie wohl auch nicht, denn es ist von "Originalen" und "Unikaten" die Rede, der Text geht bewusst ins Absurde, der Protagonist wechselt ständig seine Identität, einmal hat er acht Klaviere auseinander genommen, um "den fehlenden Ergänzungston zu finden, der die Verstimmung wieder zum Einklang mit den Schöpfungsharmonien bringen soll." Da hiess er noch Prohaska, später Roth und dann Grün.
Im Klappentext heisst es über die Charaktere des Buches: "Alle faszinieren durch Eigensinn, ausgefallene Interessen und charakterliche Unausgewogenheiten. Verena Rossbacher fesselt den Leser mit einer Geschichte, die um Liebe, Entwicklung und Verwandlung kreist, und mit ihrer Fähigkeit, die Figuren durch ihre Sprache kenntlich werden zu lassen." (Im Original-Klappentext alles in Grossbuchstaben.) Mich hat das leider nicht gefesselt, bis zum "Steinesammler, Floristen und Universalautodidakten Lenau", der im Klappentext angekündigt wird, habe ich es nicht mehr gebracht. Aufgabe nach ca. 60 Seiten, tut mir leid.
Unklare Praxis: "Grün wachelte mit der Zeitung."
Monika Scheele Knight / Dauerhafter Link / Kommentare (3)
1 [2]