09.11.2007 / 01:29 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

"Kosmos" 1930 (324-330)

Im Traum fahre ich auf meinem Skateboard eine Strasse entlang, das heisst, ich sitze auf dem Skateboard und schiebe mich langsam, kriechend, mit einem Fuss voran. Dann werde ich von zwei zu Fuss gehenden Freunden eingeholt, ich springe auf und stecke das Skateboard in meinen Rucksack. Bestimmt werden die beiden glauben, ich sei darauf bis gerade eben geschmeidig herumgefahren.

Wenn dieser Traum mir nichts über die Arbeit am Prokrastinationsbuch sagen will, dann weiss ich auch nicht. Auf dem Golfplatz in New Montreal, ("brit. Nordamerika"), wurden 1930 in der Höhlung eines Baumstumpfes 120 Golfbälle gefunden, "die hier von Eichhörnchen zusammengetragen worden waren (...) Aus den Fabrikmarken einzelner Bälle konnte festgestellt werden, dass die Eichhörnchen schon gleich nach der Fertigstellung des Golfplatzes vor sieben Jahren damit begonnen hatten, Bälle zu sammeln." Ich weigere mich, zu glauben, dass Eichhörnchen über so viel Selbstdisziplin verfügen, dass sie zwecks delayed gratification Nüsse für den Winter sammeln; es muss ihnen wohl Spass machen. Noch mehr Spass macht es vermutlich, stattdessen Golfbälle zu sammeln, einfach nur, weil man eigentlich einer anderen Tätigkeit nachgehen sollte. Wie gut hat es das Eichhörnchen, wie schwer dagegen der Mensch. Und dabei hat man noch nicht einmal herausgefunden, was die "Vermischtes"-Meldung auf S. 324 unten, "Änderung der Artmerkmale durch Röntgenbestrahlung" noch für Ärger nach sich ziehen wird.

Fundort: Martin Baaskes Bücherregal, Haus der Frohen Zukunft

Prokrastinationsbuch: 8 von 200 Seiten geschrieben.


07.11.2007 / 23:33 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat (143-161)

Es wird schwer werden, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat nicht zu lesen, denn es fängt schon mal sehr gut an: mit einer Tabelle der Abkürzungen nämlich. "UB" steht für "unbekanntes Buch, "QB" für "quergelesenes Buch". Andererseits wäre es sicherlich die eleganteste Lösung, gerade dieses Buch konsequent nie zu lesen. Allerdings rät mir der weise Herr Rutschky dazu, denn angeblich ist hier Material für das Prokrastinationsbuch zu finden. Ob er das Buch selbst gelesen oder nur so wie ich vorsichtig den Klappentext und das Inhaltsverzeichnis betrachtet hat, weiss ich nicht. Ich werde kompromisshalber versuchen, eine prokrastinationsrelevante Stelle zu finden.

Zum Beispiel das Kapitel "Sich nicht schämen", denn schliesslich muss man sich auch bei der Prokrastination als Erstes über Scham und Schuldgefühle hinwegsetzen lernen. Gleich auf der ersten Seite dieses Kapitels heisst es:

"Wie wir gesehen haben, hat das Sprechen über ein Buch wenig mit seiner Lektüre zu tun. Die beiden Tätigkeiten sind völlig unabhängig voneinander, und ich für meinen Teil rede, seit ich praktisch zu lesen aufgehört habe, nur um so länger und besser über die Bücher, da mir diese Abstinenz die nötige Distanz – Musils "Überblick" – dazu verschafft."

Now we're talking! Allerdings fragt man sich, was da wohl auf den ersten 142 Seiten passieren mag, wenn eine so zentrale Aussage des Buchs jetzt erst auftaucht. Vielleicht steht in jedem Kapitel dasselbe und Bayard glaubt, wir merken es nicht? Weiter geht es wieder mit Lesemaschine zweiten Grades, nämlich Auszügen aus David Lodges Schnitzeljagd. Lodges Protagonist ist empört über das "Scheissbuch" eines Universitätskollegen, das er gar nicht gelesen hat, "das war auch gar nicht nötig, ich hab oft genug mit ihm in diesen öden Prüferkonferenzen gesessen, ich kann mir schon denken, wie es ist." Eine völlig legitime Haltung laut Bayard, denn:

"Im Gegensatz zu dem berühmten Proust'schen Postulat der Trennung von Autor und Werk – oder eher im Gegensatz zu einer bestimmten Lesart dieses Postulats – ist ein Buch kein Meteorit und kein Produkt eines verborgenen Ichs. Es ist oft nichts anderes als die Verlängerung der Person, die wir kennen (unter der Bedingung natürlich, dass wir uns die Mühe gemacht haben, sie kennenzulernen), und es ist absolut möglich, sich wie Dempsey einzig durch den Umgang mit dem Autor eine Meinung zu bilden."

So weit, so gut, das gilt sicher nicht nur für Jochen Schmidt, dem man neulich in irgendeiner Zeitung vorwarf, er schreibe ja wohl keine richtige Literatur, weil es in seinen Büchern immer nur um ihn selbst gehe, und der seitdem vermutlich an flammenden Leserbriefen ("aber Proust!") arbeitet. Problem: Die Autoren sind oft weniger sympathisch als ihre Bücher, so dass man das Werk missmutig zur Bücherspende geben muss, wenn man den Autor einmal auf einer Lesung erlebt hat. Noch schlimmer ist es, wenn der Autor sympathisch, das Buch aber unlesbar ist. Nicht alle Autoren sind so zuvorkommend, ihre Person in ihren Büchern exakt in die passende Richtung zu verlängern.

Wer jetzt beschliesst, dieses Buch auch einmal nicht zu lesen, der sei gewarnt: Der Autor ist Psychoanalytiker, es geht also neben all diesen schönen Dingen auch um verängstigte innere Kinder, durch Literatur zu stopfende Lücken in der Persönlichkeit, und so weiter, das Übliche halt. Aber es ist ja alles für einen guten Zweck, nämlich die Befreiung vom "repressiven Bild einer lückenlosen Bildung ... dem wir vergeblich ein ganzes Leben lang hinterherrennen". Deshalb gehen wir versöhnlich mit einem Zitat auseinander, das die Lesemaschine ganz gut beschreibt:

"In diesem kulturellen Kontext bilden die Bücher – die gelesenen wie die ungelesenen – eine Art zweite Sprache, die wir benutzen, um über uns selbst zu reden, um uns vor anderen auszudrücken und mit ihnen zu kommunizieren."

Prokrastinationsbuch: 0 von 200 Seiten geschrieben.


06.11.2007 / 21:37 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Arthur Herman: "The Idea of Decline in Western History" (166-186)

Sascha hat offenbar auch weiterhin überhaupt nicht am Prokrastinationsbuch gearbeitet, es ist heutzutage so schwer, gute Co-Autoren zu finden. Eventuell werde ich doch selbst mit der Arbeit anfangen müssen, am besten gleich morgen.

"The Idea of Decline in Western History" stammt aus einem amerikanischen Versandantiquariat und trägt auf dem Titelblatt einen schönen Prägestempel der "Library of Gordon S. Hawkins" sowie die Widmung "For Don Hawkins, with very best wishes, Arthur Herman". Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass "Gordon S. Hawkins" keine Bildungseinrichtung und darüber hinaus mit dem Vorbesitzer Don Hawkins identisch ist. Bis S. 165 hat Hawkins reichliche Bleistiftanstreichungen vorgenommen, dann folgt ein Lesezeichen von Borders in Kensington, Maryland, dann nichts mehr. Da der erste Teil des Buchs ja schon gelesen worden ist, steige ich gleich auf S. 166 ein; das Kapitel heisst "Gilded Age Apocalypse".

Und damit geraten wir mitten in eine Lesemaschine zweiten Grades, denn fast bis zum Ende des Kapitels geht es um die mir unbekannten Brüder Brooks Adams und Henry Adams und um Brooks' Buch "The Law of Civilization and Decay". Geld, so scheint in diesem Buch zu stehen, ist eine Naturgewalt, und solange seine Menge zunimmt, formen sich Nationen. Dann verschwindet das Geld wieder, und die Zivilisation zerfällt. Die Einführung des Goldstandards ab 1876 war für Brooks Adams der Todesstoss für die Zivilisation, während Alan Greenspan knapp hundert Jahre später behaupten wird, die Abschaffung des Goldstandards sei der Todesstoss für die Zivilisation.

Weiter geht es um den Untergang Amerikas durch schlechtes Immigrantenblut, z.B. das der "Alpine types", und es wird aus dem Grossen Gatsby zitiert. Dort gibt es einen Rassisten und Antisemiten namens Tom Buchanan, von dem wir nebenan bisher noch nichts gehört haben. Denn auch in Amerika machte man sich seinerzeit Sorgen um den ungehinderten Zuzug von "rotten, unsexed, swindling, lying Jews" (Henry Adams) und begriff sich offenbar erst nach dem Holocaust als "nation of immigrants", ach, man weiss ja so vieles nicht. Dann ist komfortablerweise das Kapitel zu Ende, Mr. Hawkins' Borders-Lesezeichen rückt 20 Seiten vor. Falls ich nicht mehr dazu kommen sollte, kann später jemand anders an dieser Stelle weitermachen.

Fundort: Briefkasten

Prokrastinationsbuch: 0 von 200 Seiten geschrieben.


05.11.2007 / 17:17 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Virginie Despentes: Baise-moi (5-17)

Ein weiterer Grund, warum die Natur in der Stadt besser ist als auf dem Land: Auf dem Land ist der Sternenhimmel ein verwirrendes Gewimmel von vielen tausend Himmelskörpern. In der Stadt bildet er exakt das ab, was auch auf der Sternkarte zu sehen ist; alle Sterne unterhalb der ungefähr 4. Grössenklasse werden benutzerfreundlich ausgeblendet. (Das mit den Grössenklassen kann man bei Your Sky ausprobieren.)

Nach diesem kurzen Wissensabstecher müssen wir uns tief in die Sümpfe der Ahnungslosigkeit hinabbegeben und das versprochene französische Buch lesen. Drei Schuljahre à sechs Wochenstunden Französisch sind spurlos an mir vorübergezogen, obwohl ich Sprachen schätze wie die Ziege den Salzleckstein. Das liegt daran, dass ich wie alle deutschen Schüler nette Englisch-, aber widerwärtige Französischlehrer hatte, es ist also, wie so oft, die Gesellschaft schuld. Zum Glück erinnere ich mich noch vage an die Buchverfilmung und bin daher fest entschlossen, in den Rorschachflecken der ersten 20 Seiten eine Vergewaltigung zu erkennen.

Auf der ersten Seite guckt eine Frau einen Pornofilm, vorausgesetzt, ein "magnétoscope" ist wirklich ein Videorecorder und kein Instrument aus dem Physiklabor. Jedenfalls ist viel von Urin und Kameras die Rede, eine Kombination, die man schon unter statistischen Gesichtspunkten dem Pornogenre zuordnen kann. Jetzt kommt eine zweite Frau herein. Es scheint, dass sie die Pornographie nicht schätzt, "ça me dégoûte". Wiederbegegnung mit einem schönen Wort, wie konnte ich dégueulasse vergessen? Falle mehrmals auf die Täuschung herein, der Text handle von einer Frau namens Elle. Tatsächlich sind es zwei Frauen, Nadine und Séverine, die aus raisons purement pratiques zusammenwohnen. Séverine ist fondamentalement masochiste, ich weiss nicht, ob ich diese Namenswahl gutheissen soll, aber vielleicht ist Séverine ja der drittgebräuchlichste französische Frauenname und die Autorin trifft keine Schuld. Am Ende des ersten Kapitels onaniert eine der beiden Protagonistinnen, vermutlich erfolgreich. Aus dem Zusammenhang erschlossen: écran, queue, mégot, paume.

Weiter geht es mit einer Frau namens Manu. Wenn "dans le vomi" heisst, was ich vermute, hat Manu nicht viel zu lachen. Sie streitet sich mit jemandem herum, jemand anders ist tot aufgefunden worden. Jemand namens Radouan tritt ein, ach, das ist mir jetzt zu mühsam, denn schon beim Vorblättern sieht man, dass bis zum Ende von Kapitel drei mitnichten vergewaltigt, sondern weiterhin nur herumgeredet wird. Aber wenn ich immer so weiterlesen würde, könnte ich eines Tages Französisch. Eine schöne Vorstellung.

Fundort: Ungelesene Bücher, eigene

Prokrastinationsbuch: 0 von 200 Seiten geschrieben.


03.11.2007 / 19:05 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Jochen Schmidt: Gebrauchsanweisung für die Bretagne (7-26)

Da Frau Andrae offenbar noch damit beschäftigt ist, Schmidts wichtigste Körperfunktionen von aussen zu streicheln, und die Lesemaschine ihre Existenz Jochen Schmidt verdankt, ist es sicher nicht unangemessen, wenn ich die Wartezeit mit den ersten 20 Seiten seiner Gebrauchsanweisung für die Bretagne überbrücke.

Erster, wenig überraschender Eindruck: Das Buch handelt gar nicht von der Bretagne! Es handelt von Jochen Schmidt. Da ich in der Bretagne schon mal war und so bald nicht wieder hinfahren werde, Jochen Schmidt aber andauernd begegne, steigert das für mich den Nutzen des Reiseführers. Ausserdem lindert die Lektüre meine Selbstzweifel wegen des neuen Ichsagebloggings, denn Schmidt sagt in einem einzigen Absatz öfter "ich", als es mir voraussichtlich in jahrelanger Lesemaschinenarbeit gelingen wird.

Cape of fear, der Film heisst ja wohl Cape Fear, ein Lektorat war dem Piper Verlag wohl zu teuer, oder aber es wurde so lektoriert, wie Harry Rowohlt es von Übersetzungen beklagt, nämlich ein Fehler raus, zwei neue rein. Da meine Debuggingtechnik im Maschinenraum der Lese- und Riesenmaschine aber exakt so funktioniert, und da man Schmidt immerhin seine Standardfehler aus dem Text zu korrigiert haben scheint, will ich mal nicht so sein.

Verdammt, jetzt wird Französisch gesprochen, und dabei wird mir klar, dass Schmidt, in Brest gelebt habend, sicher Französisch kann und ich nicht. Die Vorstellung, dass Schmidt etwas kann, was ich nicht kann, ist mir unerträglich, gleich morgen werde ich ein französisches Buch lesen müssen, um aufzuholen.

Und jetzt doch noch das Schmidtsche Komma-vor-als: "Hoffentlich habe ich diesmal mehr Glück, als bei meinem ersten Besuch mit dem Auto." Ein Korrektorat war dem Piper Verlag wohl zu teuer, was sind das für Zustände heutzutage, eines Tages wird es den Verlagen ergehen wie heute der Musikindustrie, und dann wird es ihnen leid tun.

"Dann stosse ich auf meine eigene Telefonnummer", behauptet der in einem Brester Telefonbuch blätternde Schmidt, darf man so lügen? Das Telefonbuch von Brest hat nur drei Seiten, und Schmidt hat nach einem Bretonen namens Schmidtoc oder wie man dort halt heisst, gesucht, klar. Seinen eigenen Namen in den Telefonbüchern fremder Städte nachschlagen, das hätte ich jetzt nicht mal Schmidt zugetraut. Aber immerhin steht er im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen tatsächlich in fast jeder Stadt im Telefonbuch.

"Denn dieser Ort ist zwar abweisend und trist, aber die Menschen sind um so herzlicher." Dazu sage ich jetzt nichts, der Satz tut Schmidt sicher auch schon leid. Und vielleicht ist der Ort ja auch wirklich abweisend und trist, die Menschen sind dafür aber um so herzlicher, dafür kann der Autor ja dann nichts, da muss man auch mal den Mut haben, zu den Tatsachen zu stehen. Meine 20 Seiten sind um, mehr werde ich heute nicht über die Menschen, die Architektur, die Landschaft und die Geschichte von Jochen Schmidt erfahren.

Fundort: Ungelesene Bücher, eigene

Prokrastinationsbuch: 0 von 200 Seiten geschrieben.


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