28.11.2007 / 19:23 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)
Empörend. Aber auch schön. Nachdem der Zug aus der Höhle unter Journal Square gekrochen ist, nimmt er Fahrt auf und rumpelt aus dem Einschnitt im Höhenzug zwischen Hudson und Hackensack heraus und nach Westen. Verfallende Industrielandschaften sind den Sümpfen hier nur lose aufgesetzt, zwischen den Parkbrachen und dem bröckelnden Mauerwerk toter Fabriken wiegt sich das Schilfgras, und vor dem Kraftwerk, bei dessen Einweihung Edison Ehrengast war, wird die Strasse bei Regen unpassierbar, ein Teil des Flusses mehr als des Landes. Zwischen den Gleisen, neben der Strecke, überall steht das Wasser und versucht, die ihm abgetrotzte Fläche zurückzugewinnen.
Vor Jahren, angetrieben von der Mischung aus Neugierde und Langeweile, der sich grosse Entdeckungen ebenso verdanken wie frühe Tode, stand ich mit beiden Beinen in einem glühenden Strom. Winzig klein sausten leuchtende Spielzeugautos den Waldweg entlang, um meine Füsse teilte sich der Strom und floss hinter mir wieder zusammen, ein klirrendes Rauschen ging von dieser Waldautobahn aus, und ich folgte ihr bis an ihre Quelle, wo, und dieses Klischeeerlebnisses wegen stehe ich der Hawaiianischen Babyholzrose heute ein wenig zwiespältig gegenüber, ein schlafender Riese in den Wipfeln lag. Ein Riese! Also nein, Droge, so nicht.
Vom Riesen wählte ich damals den kürzesten Weg nach Hause, stracks durch die Vorgärten, Hintergärten und Seitengärten der Vorortsiedlung auf dem "Sand", die den Wald von meinem Zimmer trennte. Landbesitz erschien der Droge eine Absurdität, und ich erkletterte also Zäune, durchquerte Beete, und benahm mich im Ganzen an diesem Abend, Autobahn, Sand, Aktivismus gegens Grundeigentum, wie Moses auf Long Island. Dass man die Spuren meiner Rebellion heute nicht mehr finden wird, Moses aber sich der vormaligen Sumpflandschaft aufgeprägt hat wie ein Staubbeutel dem Stempel, auch daran wird wohl die Droge schuld sein.
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22.11.2007 / 17:30 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)
Leitern. Besteigen? Vom Bahnsteig aus sieht man am Journal Square – seine Geschichte kennt ihr ja schon – auf beiden Seiten Felswände, drüber ein von Jahrzehnten durchrumpelnder Züge schwarz gewordener Schatten. Bei der Einfahrt in die Höhle sprühen Funken immer an derselben Stelle, als schweisse draussen vor dem Wagen jemand den Sprung in der Welt notdürftig zusammen: Aufhebung der Ursünde im Lichtbogen des abbremsenden Nahverkehrs.
Oben an der schwarzen Decke, auf den Pfeilern, wohnen Tauben. Man sieht das zuerst nicht, so wie man die Mäuse auf den Schienen und zwischen dem Müll nicht sieht, muss ein paar Minuten hinsehen, und dann treten sie aus der Schwärze auf ihre kleine Bühne und spielen ihr Leben vor. Dort unter der dunklen Decke wird der Vogel bald sein Nest bauen, oder vielmehr ja ein "Nest", einen Haufen Dreck und Taubenscheisse zusammenscharren, ein Ei reinsetzen, ein Kind rauswerfen, ehe er dann vom Habicht zerfetzt und vom Taxi überfahren wird. Ein kleines Leben ist das, aber die Ähnlichkeiten mit meinem eigenen rühren mich doch, die Ambitionen, die Hoffnungen. Dabei werde ich selbst vermutlich weder ein Ei legen noch von einem Taxi überfahren werden.
Am anderen Ende der Skala stehen Biografien wie die von Al Smith, dem Gönner und Förderer unseres Helden, wie ich Moses von jetzt ab nennen werde, aus Scheiss. Das Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen, das an Dimensionen gewinnt, wenn man den Spaziergang über die Brooklyn Bridge schon mal selbst gemacht und die Tenements in der Lower East Side selbst gesehen hat, und die wacklige Flugbahn nach oben und nach Norden, bis zum Einschlag im Gouverneurspalast, die Ähnlichkeitsmaschine sucht nach Parallelen. Die Gesetzestexte, von denen Smith nichts versteht, und in denen er sich dennoch Jahr um Jahr vergräbt, sind sie nicht wie ein Flug quer über einen Kontinent, den man sich nicht leisten kann, und den man antritt nur um dort vor einer Prüfungskommission kampfzutanzen? Oder wie das Taubenei, schnell gelegt und schneller noch zu Gips getauscht.
Nein, sind sie nicht.
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17.11.2007 / 16:41 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)
Die Ablehnung eines Reformvorschlags durch das Parlament. Als ich vor drei Monaten aus Kalifornien weggezogen bin, habe ich kurz vor dem Einsteigen ins Flugzeug noch versucht, für den Schwarzgurt geprüft zu werden. Das klappte nicht mehr, ein kleines Scheitern und eine offene Rechnung, aber wenn man von Robert Moses bislang irgendwas lernen kann, dann ist es wohl das Wegstecken von Fehlschlägen. Erst gehen seine hochfliegenden Stadtreformpläne baden und er wird gefeuert, dann wird sein Gouverneur nicht wiedergewählt und eine zweite Karriereschaukel kommt quietschend zum Stillstand, aber Moses bleibt stur in seinem Einbauschrank auf Broadway sitzen und wurstelt so unbeirrt besessen weiter, dass noch Jahrzehnte später einer seiner deshalb beeindruckten Mitarbeiter Zeitungsausschnitte über ihn in Pappschachteln sammeln wird. Die Fortsetzung der Besessenheit mit Schnippelmitteln, Besessenheitsbesessenheit.
Zweimal hätte Moses sein Reformidealismus jetzt eigentlich schon ausgetrieben sein müssen, das macht mir ein bisschen Sorgen, denn wenn wir alle ein bisschen wie Moses sind, müsste ich also heute abend erstmal durch die jetzt doch noch anberaumte Prüfung rasseln, mich dann mühsam an einen Karatemeister ranwanzen, der zurückgezogen in einer Bergfestung lebt, und dann in ein paar Jahren begeistert "Er guckt, wenn ich kicke! Er guckt!" in die Lesemaschine schreiben. Und dann, vielleicht, würde es klappen, das wissen wir ja noch gar nicht, weil wir nämlich nicht vorausblättern, sondern schön ordentlich eine Seite nach der jeweils anderen lesen.
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09.11.2007 / 16:22 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)
Weltveränderung von unten. In jedem guten Witz gibt es eine Pointe, in jedem guten Martini schwimmt eine Olive, und in der Olive steckt eingelegter Paprika. Und in jeder guten amerikanischen Stadt gibt es einen Union Square. Ich habe grade den von San Franzisko hinter mir gelassen, wo mein leuchtendes Vorbild, seine königliche Hoheit Joshua Abraham Norton der Erste, Kaiser der Vereinigten Staaten und Schutzherr von Mexiko, 1880 einen Weihnachtsbaum errichten liess. Der steht seitdem dort jedes Jahr, nur ich stehe jetzt woanders. Der Union Square in meiner neuen Stadt ist grösser, flacher und um einiges weniger einladend, vielleicht, weil es Abend ist, vielleicht weil Manhattan erheblich dreckiger ist – unter den Abflussgittern in den Strassen liegen halbmeterhohe Strassenstaubberge – vielleicht aber auch einfach, weil der New Yorker Grosssachem von Tammany Hall, Charles F. Murphy, dem hier ein Fahnenmast gewidmet ist, seiner königlichen Hoheit kein getrübtes Wässerchen reichen könnte, das ist nun doch eine ganz andere Liga. Eigenes Geld nicht nur zu drucken, sondern damit auch noch überall bezahlen zu können, weil die charmierten Regierten einen so inständig verehren, davon konnten die korrupten Schranzen der Tammany Society trotz aller realen Macht doch nur träumen.
Ich schreib das hier so versiert hin, aber natürlich hatte ich nicht den Hauch einer Ahnung, wovon Caro redet, Tammany Hall hier, Tammany da, was soll das Namedropping, Herr Autor. Dabei hatte sie ja sogar hier am Union Square ihr Hauptquartier, die Politlobby, ein Filminstitut ist heute drin. Zu Moses Zeiten war das Hauptquartier der Bande allerdings um die Ecke, auf der vierzehnten Strasse, und von dort aus also löschte man die Arbeit einiger Jahre seines Lebens und alle seine Reformversuche aus. Wir wissen natürlich schon, dass alles ein gutes Ende nehmen wird, dass Robert eine mächtige Brückenspinne werden wird, aber er weiss das noch nicht. Er blickt jetzt zurück auf verschwendete Jahre und gescheiterte idealistische Pläne, und es geht ihm vermutlich nicht gut. Vier Jahre, wird er sich gesagt haben, und was habe ich vorzuweisen, was hat es genützt? Kein Geld im Haus, nur hartes Brot in der leeren Küche, was ich tue, bewirkt nichts und hilft niemandem, und jetzt auch noch Kakerlaken und Wanzen überall. Oder halt, Moment.
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08.11.2007 / 02:22 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)
Wenn das die angehenden Stadtplaner sehen. I'll kill you, ruft der alkoholkranke Nachbar offenbar immer, wenn er freundlichen Umgang mit Vermietern pflegt, die ihn grade aus seiner Wohnung geklagt haben, und so rief er es auch dem kleinen Ungarn zu, der scheu im Hausflur stand, I'll jump your bones, so wurde es mir jedenfalls erzählt. Die Wissenschaft hat nachgewiesen, dass bis zu 75% unseres Lebens indirektes und nachvollzogenes Fremdleben ist. Erfundenes, Nacherzähltes, Nachgelesenes, und natürlich nacherzähltes Gelesenes. Das ist toll, aber was bedeutet es? Und stimmt das überhaupt, oder hab ichs grade erfunden? Es passiert jedenfalls was im Apartment über uns, davon zeugen schon die Schabenscharen, die wegen Abriss ihrer Möbel bei uns auf Wohnungssuche gehen, und doch nur ihr Ende finden. Dumme Tiere, wir alle.
Auf dem Weg nach Journal Square zähle ich ein paar Blocks lang die Mülleinheiten auf der Strasse, hunderte kommen da zusammen, ich höre folgerichtig schon nach drei wieder auf, aber müssen denn Strassen in verschnarchten Wohngebieten wirklich aussehen wie das Innere unserer Mülltonne aussähe, wenn wir uns nur von Zigaretten, Kartoffelchips und kostenlosen Zeitungen ernährten? Schon gut, nicht beantworten, wir sind eh alle derselben Meinung, da steht zum Beispiel ein Ladeninhaber und kommt seiner Vision eines sauberen Gehwegs qua Fegens ein wenig näher. Was also fegt er? Er fegt den Müll. Und wo aber fegt der Mann den Müll hin? Er fegt den Müll über den Bordstein auf die Strasse. Nuja, ich will ausnahmsweise mal nicht schimpfen, immerhin ein Anfang ist gemacht, der Gedanke zählt, es wurde hier zwar kein Riverside Park grosspurig geplant, keine Waterfront von einem kleinen Angestellten der Stadtbehörden in die Revitalisierung geträumt, keine matschigen sechs Meilen als Familienausflugspark neu erfunden, aber immerhin ein bisschen Müll vom Gehweg auf die Strasse gefegt, und vielleicht hat ja der brave Mann in seinem Lädchen einfach noch nicht gehört, dass es manchmal Wind gibt, der sowohl den Müll von alleine wegbläst, als auch den weggefegten zurück. Vielleicht hat er aber auch nur Ehrgeiz für zehn und baut in wenigen Jahren schon monströse Brücken über den Fluss Hackensack, der wirklich so heisst.
An Journal Square dann ist die obere Rolltreppe in Betrieb, ich reibe mir ungläubig die Augen, bekomme Angst, es ist aber alles in Ordnung, auf der zweiten Ebene stehen die Absperrungen, so soll es sein. Nach zwanzig Minuten kommt der Zug, eine Durchsage: dieser Zug endet hier, eine weitere Durchsage: Züge nach Newark verschieben sich fünfzehn Minuten, dann noch eine: Zugverkehr nach Newark ist eingestellt, wegen Police Action. Curse you, Moses.
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