09.12.2007 / 23:58 / Jochen Schmidt liest: Liebe als Passion (Niklas Luhmann)
Typisches, nicht auf Kommunikation erbautes soziales SystemLangsam erhärtet sich der Verdacht, dass es nicht zum Verständnis Luhmanns beiträgt, Luhmann noch nicht gelesen zu haben. Wenn es heisst "soziale Systeme kommen nur durch Kommunikation zustande", müsste ich ja, während das Auge schon gierig die nächste Zeile verschlingt, im Geist blitzschnell erfolglos alle anderen Wege durchspielen, auf denen soziale Systeme für den Laien erzeugbar zu sein scheinen. Oder ich glaube dem Autor einfach, was mir viel Mühe erspart.
Ich meine auch herauszuhören, dass Kommunikation in Luhmanns Welt das grosse Ding ist. Wo sich "Entmutigungsschwellen" auftürmen, verschaffen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien "Erfolg". Die Freiheitsgrade der Kommunikation steigen mit den kommunikationsfähigen Themen und das System wird anpassungsfähiger, was die Evolution wahrscheinlicher macht. Auch diese ist immer gern gesehen.
Liebe als Passion ist ein Verhaltensmodell, das "das Fehlen eines Partners spürbar macht, ja zum Schicksal werden lässt." Ohne fehlenden Partner verliert man einfach schnell die Leidenschaft. Das Problem am Medium Liebe ist die "höchstpersönliche Kommunikation", mit der der Sprecher sich von anderen Individuen zu unterscheiden versucht, indem er über sich spricht oder "bei Sachthemen seine Beziehung zur Sache zum Angelpunkt der Kommunikation macht." (Statt ihr nach dem Mund zu reden?) Je absonderlicher der eigene Standpunkt, "desto unwahrscheinlicher das Interesse bei anderen." (Was für langweilige "Andere" müssen das sein, an die Luhmann hier denkt, und die an absonderlichen Standpunkten keine Freude haben! Wäre es absonderlich, das Gegenteil zu behaupten? Luhmann zu lesen wäre doch auch nur halb so schön, wenn es nicht so absonderlich wäre, die Liebe auf diesem Weg zu verstehen zu versuchen.)
Eines wird "erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts klar". Immer wieder eine einschüchternde Wendung, die einen dazu zwingt, sich alles, was man vom 18. Jahrhundert weiss, vor Augen zu führen, und das ist nicht viel. Ausserdem umfasst das 18. Jahrhundert ja, wie ich mir jedesmal neu klarmachen muss, die Jahre von 1700 bis 1799 und nicht die von 1800 bis 1899. Klar wird also "erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts", dass der Weltbezug des personalen Individuums mitindividualisiert wird. "Gibt sich der andere als weltkonstituierende Individualität, ist jeder, der angesprochen wird, in dieser Welt immer schon untergebracht", und damit vor die Alternative gestellt, "den egozentrischen Weltentwurf des anderen zu bestätigen oder abzulehnen."
In der Liebe wird die "laufende Mitbeachtung des Partners in allen Lebenslagen" erwartet. Das Tragische liegt in "der Notwendigkeit, auf Erleben mit Handeln zu antworten." Denn der Liebende muss handeln, um sich mit dem vom Geliebten lediglich Erlebten zu identifizieren. Und das ist wie der Wettlauf von Hase und Igel, nur dass der Igel sagt: "Ich bin schon weg!" Ständig identifiziere ich dem egozentrischen Erleben des Geliebten hinterher, ohne dadurch selbst von ihm erlebt zu werden. Auch nicht, wenn ich noch so sehr "die Chance des Zuvorkommens" nutze. (Am Ende wird er mich gerade dafür ablehnen, dass ich alle seine Wünsche antizipiere, weil das auch wieder langweilig ist.)
Ausserdem muss ich ja immer nachvollziehen "wie Input in ihm als Information wirkt und wie er seinen Output an die eigene Informationsverarbeitung wieder anschliesst." Um zu verstehen, wie der andere erlebt, muss ich seine Umwelt mitdenken, zu der ich selbst gehöre. "Verstehende Liebe ist kognitiv so strapaziös, dass es nahe liegt, sich ans Gefühl zu halten und dessen Instabilität in Kauf zu nehmen." Gefühle als Erholung von kognitiven Strapazen? Da lese ich doch lieber Luhmann.
Wörter, zu schön, um in der Soziologie zu versauern: dinganalog, Schwellenproblem
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30.11.2007 / 18:39 / Jochen Schmidt liest: Liebe als Passion (Niklas Luhmann)
Es gibt viele Wege, sein Eigenstes zu kommunizieren"Es ist sicher ein Fehlurteil, wenn man die moderne Gesellschaft als unpersönliche Massengesellschaft charakterisiert und es dabei belässt." Es spricht sicher von Selbstbewusstsein, wenn man einfach im ersten Satz des ersten Kapitels das Gegenteil von dem, was alle denken, als selbstverständlich voraussetzt. Aber das ist das Schöne an Luhmann, diese auf der Gewissheit der eigenen Überlegenheit fussende subtile Arroganz. Massengesellschaft, das denkt, wer nur die Wirtschaft betrachtet. Auf anderen Gebieten werde heute mehr denn je individuiert. Nie gab es so viele Möglichkeiten, anderen sein Eigenstes mitzuteilen. Und warum? Weil die Gesellschaft "Interferenzen besser abfiltern kann". Wüsste ich, was das heisst, hätte ich vielleicht weniger oft Gesprächspartner durch Mitteilung meines Eigensten abgefiltert.
Man kann heute erfolgssicher kommunizieren, indem man Rollenmerkmale einschätzt (Polizist, Telefonistin, Verkäuferin). Verlässlichkeiten ermöglichen Unpersönlichkeit, was von jedem, der neben dem Plausch mit der Kassiererin bei Kaiser's auch noch andere menschliche Kontakte pflegt, als angenehm empfunden wird. Im Grunde könnte man ja auch noch weiter gehen und daran denken, Polizisten durch Ampeln, Verkäuferinnen durch Getränkeautomaten und Telefonistinnen durch Warteschleifen zu ersetzen, aber das ist Zukunftsmusik.
Die einfache Vermehrung persönlicher Beziehungen würde überfordern. Aber Intensivierung ist möglich. Also Beziehungen, in denen immer mehr einzigartige Eigenschaften einer Person bedeutsam werden. Solche Beziehungen werden "zwischenmenschliche Interpenetration" genannt. Ein anderer, weniger schillernder Ausdruck dafür wäre "Intimbeziehungen".
Es kann nie die Gesamtheit dessen, was einen Einzelmenschen ausmacht, für andere zugänglich sein, schon "weil sie auch für ihn selbst nicht zugänglich sind." (Es sei denn, jeder würde ein Buch mit dem Titel "Meine wichtigsten Körperfunktionen" schreiben.) Aber Regeln und Codes legen fest, dass man "kein Desinteresse bekunden darf an dem, was der andere persönlich wichtig nimmt" (Deshalb ist es ja auch so unhöflich, wenn jemand ein Buch mit dem Titel "Meine wichtigsten Körperfunktionen" nicht liest.) Offenbar ist es aber keine anthropologische Konstante, sich selbst und andere als einzigartig zu stilisieren, sondern eine Frage der Differenzierungstypik des Gesellschaftssystems. Und weil jahrhundertelang mutwillig an der Gesellschaft herumdifferenziert wurde, darf ich heute kein Desinteresse mehr am Eigensten anderer Einzelmenschen bekunden.
Die moderne Person interpretiert ihre Differenz zur Umwelt auf die eigene Person zurück, "wodurch das Ich zum Focus des Erlebens wird". Die Weltmöglichkeiten werden komplexer, und der Bedarf für eine noch verständliche heimische Nahwelt ergibt sich. Aber auch für Erfahrungen der Nahwelt muss man soziale Bestätigung finden können. Indem einem zum Beispiel in der Nahwelt eines anderen eine Sonderstellung zugewiesen wird, bzw., wieder etwas weniger schillernd ausgedrückt, indem man geliebt wird.
Aber "Wie war die Entwicklung eines besonderen Kommunikationsmediums für den Intimbereich" bei "noch schichtgebundener Kommunikation" möglich? fragt sich Luhmann im letzten Absatz des ersten Kapitels und reisst das Kartenhaus meines Verständnisses einfach wieder ein. Muss ich jetzt alles noch einmal von vorne lesen? "Diese Frage muss, bevor wir uns auf historische Studien einlassen, zunächst an Hand einer allgemeinen Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien ausgearbeitet werden." Wenn man, bevor man sich auf etwas einlässt, "zunächst" eine allgemeine Theorie ausarbeiten muss, wird man irgendwann gar nichts mehr gefragt werden!
(Wollte beim Hosenkauf vermeiden, dass die neue sofort wieder meine Lieblingshose wird und ich nur noch diese anziehe, so dass ich im Endeffekt nicht eine Hose mehr, sondern viele Hosen weniger habe. Also diesmal schlauerweise gleich zwei Levi's gekauft, zuhause aber die blaue Farbe als zu brav für meine gegenwärtige Midlife-Crisis empfunden. Umgetauscht gegen noch eine dunkle, eine Nummer grösser als die erste, von der ich ja gedacht hatte, sie sei zu eng. Jetzt ist die erste aber gar nicht zu eng, und ich müsste die zweite noch einmal umtauschen. Dann hätte ich aber zweimal die gleiche Hose gekauft. Ausserdem kann ich doch nicht schon wieder umtauschen gehen, einmal war peinlich genug, es wurde schon getuschelt. Ich fühle mich in solchen Konsumsituationen immer zwischenmenschlich penetriert und sehne mich nach der erfolgssicheren Kommunikation mit einem Verkaufsautomaten, der mir Unpersönlichkeit ermöglicht, auch wenn ich ihn anschreien und schlagen sollte. Vielleicht sehnt die Verkäuferin sich ja ihrerseits nach einem automatischen Kunden? Vielleicht täten wir uns alle einen Gefallen, wenn wir uns aus dem Weg gingen und das Kommunizieren den Maschinen überliessen?)
Möglicher Titel für potentielles Buch: "Das Ich im Focus des Erlebens"
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22.11.2007 / 12:54 / Jochen Schmidt liest: Liebe als Passion (Niklas Luhmann)
patior – pati – passus sumLuhmann gilt als Autor, bei dem jeder Satz ein Türsteher für einen Club ist, in dem Männer sitzen und erfolgreich kommunizieren. Ich will ja auch gar nicht rein, nur mal gucken, ob wer da ist, den ich kenne. Komisch, dass Luhmann als trocken gilt, nur weil er unverständlich schreibt, und Celan mit denselben Mitteln die Frauenherzen erobert. Aber gibt es überhaupt zwei verschiedene Unverständlichkeiten auf der Welt? Ist nicht jeder Text, den ich nicht verstehe, ein Gedicht?
Wie in jedem meiner Bücher steckt auch im Luhmann ein Bleistift, an der Stelle, wo ich bei der Lektüre aufgegeben hatte, hier auf Seite 42. Ich könnte also diesmal einfach nur die beim ersten Anlauf angestrichenen Stellen lesen, aber das würde bei Luhmann nicht mal schneller gehen, eine der Eigenheiten seines Stils. Ausserdem stelle ich bei einer Stichprobe fest, dass mir dann der Satz: "Parsons hatte bereits gelegentlich den Gedanken, dass ein differenziertes System nur deshalb ein System ist, weil es durch Differenzierung entstanden ist", entgangen wäre. Es gibt Tage, an denen ich ihn verstehe.
Ein Vorwurf von Seiten der Frauen an mich war immer, ich würde "alles" zerreden. Dabei kann man über "alles" gar nicht reden. "Entsprechend wird Liebe hier nicht [..] als Gefühl behandelt, sondern als symbolischer Code, der darüber informiert, wie man in Fällen, wo dies eher unwahrscheinlich ist, dennoch erfolgreich kommunizieren kann." Beim nächsten Mal versuche ich es mit diesem Kompliment: "Sie wirken wie jemand, mit dem man erfolgreich kommunizieren kann." Schöner kann man es nicht sagen, nur dass es in der Liebe bekanntlich keinen Schönheitspreis gibt.
Die Theorie wird zeigen "dass Liebe nicht nur eine Anomalie ist, sondern eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit." Das klingt beruhigend, auch wenn es nur ein geringer Trost ist, dass das eigene Leid lediglich unwahrscheinlich ist und nicht anomal. Dass der Code dazu ermutigt, entsprechende Gefühle auszubilden, und ohne Liebesromane niemand verliebt wäre, ist ja ein alter Hut. Luhmann hat für seine Untersuchung Romane des 17. und 18.Jahrhunderts gelesen, sich bewusst zweit- und drittrangige Literatur gesucht und "ein unsachliches Prinzip der Zitatauswahl gelten lassen, nämlich die sprachliche Eleganz der Formulierung." Wie schön, wo doch in der Wissenschaft Eleganz heute das fest verrammelte Tor ist, durch das sich die Unsachlichkeit keinen Einlass mehr verschafft.
Wörter, zu schön, um in der Soziologie zu versauern: – "anplausibilisieren", "Selbstbeweglichkeit"
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