30.11.2007 / 18:39 / Jochen Schmidt liest: Liebe als Passion (Niklas Luhmann)

Interferenzen abfiltern (13-20)


Es gibt viele Wege, sein Eigenstes zu kommunizieren
"Es ist sicher ein Fehlurteil, wenn man die moderne Gesellschaft als unpersönliche Massengesellschaft charakterisiert und es dabei belässt." Es spricht sicher von Selbstbewusstsein, wenn man einfach im ersten Satz des ersten Kapitels das Gegenteil von dem, was alle denken, als selbstverständlich voraussetzt. Aber das ist das Schöne an Luhmann, diese auf der Gewissheit der eigenen Überlegenheit fussende subtile Arroganz. Massengesellschaft, das denkt, wer nur die Wirtschaft betrachtet. Auf anderen Gebieten werde heute mehr denn je individuiert. Nie gab es so viele Möglichkeiten, anderen sein Eigenstes mitzuteilen. Und warum? Weil die Gesellschaft "Interferenzen besser abfiltern kann". Wüsste ich, was das heisst, hätte ich vielleicht weniger oft Gesprächspartner durch Mitteilung meines Eigensten abgefiltert.

Man kann heute erfolgssicher kommunizieren, indem man Rollenmerkmale einschätzt (Polizist, Telefonistin, Verkäuferin). Verlässlichkeiten ermöglichen Unpersönlichkeit, was von jedem, der neben dem Plausch mit der Kassiererin bei Kaiser's auch noch andere menschliche Kontakte pflegt, als angenehm empfunden wird. Im Grunde könnte man ja auch noch weiter gehen und daran denken, Polizisten durch Ampeln, Verkäuferinnen durch Getränkeautomaten und Telefonistinnen durch Warteschleifen zu ersetzen, aber das ist Zukunftsmusik.

Die einfache Vermehrung persönlicher Beziehungen würde überfordern. Aber Intensivierung ist möglich. Also Beziehungen, in denen immer mehr einzigartige Eigenschaften einer Person bedeutsam werden. Solche Beziehungen werden "zwischenmenschliche Interpenetration" genannt. Ein anderer, weniger schillernder Ausdruck dafür wäre "Intimbeziehungen".

Es kann nie die Gesamtheit dessen, was einen Einzelmenschen ausmacht, für andere zugänglich sein, schon "weil sie auch für ihn selbst nicht zugänglich sind." (Es sei denn, jeder würde ein Buch mit dem Titel "Meine wichtigsten Körperfunktionen" schreiben.) Aber Regeln und Codes legen fest, dass man "kein Desinteresse bekunden darf an dem, was der andere persönlich wichtig nimmt" (Deshalb ist es ja auch so unhöflich, wenn jemand ein Buch mit dem Titel "Meine wichtigsten Körperfunktionen" nicht liest.) Offenbar ist es aber keine anthropologische Konstante, sich selbst und andere als einzigartig zu stilisieren, sondern eine Frage der Differenzierungstypik des Gesellschaftssystems. Und weil jahrhundertelang mutwillig an der Gesellschaft herumdifferenziert wurde, darf ich heute kein Desinteresse mehr am Eigensten anderer Einzelmenschen bekunden.

Die moderne Person interpretiert ihre Differenz zur Umwelt auf die eigene Person zurück, "wodurch das Ich zum Focus des Erlebens wird". Die Weltmöglichkeiten werden komplexer, und der Bedarf für eine noch verständliche heimische Nahwelt ergibt sich. Aber auch für Erfahrungen der Nahwelt muss man soziale Bestätigung finden können. Indem einem zum Beispiel in der Nahwelt eines anderen eine Sonderstellung zugewiesen wird, bzw., wieder etwas weniger schillernd ausgedrückt, indem man geliebt wird.

Aber "Wie war die Entwicklung eines besonderen Kommunikationsmediums für den Intimbereich" bei "noch schichtgebundener Kommunikation" möglich? fragt sich Luhmann im letzten Absatz des ersten Kapitels und reisst das Kartenhaus meines Verständnisses einfach wieder ein. Muss ich jetzt alles noch einmal von vorne lesen? "Diese Frage muss, bevor wir uns auf historische Studien einlassen, zunächst an Hand einer allgemeinen Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien ausgearbeitet werden." Wenn man, bevor man sich auf etwas einlässt, "zunächst" eine allgemeine Theorie ausarbeiten muss, wird man irgendwann gar nichts mehr gefragt werden!

(Wollte beim Hosenkauf vermeiden, dass die neue sofort wieder meine Lieblingshose wird und ich nur noch diese anziehe, so dass ich im Endeffekt nicht eine Hose mehr, sondern viele Hosen weniger habe. Also diesmal schlauerweise gleich zwei Levi's gekauft, zuhause aber die blaue Farbe als zu brav für meine gegenwärtige Midlife-Crisis empfunden. Umgetauscht gegen noch eine dunkle, eine Nummer grösser als die erste, von der ich ja gedacht hatte, sie sei zu eng. Jetzt ist die erste aber gar nicht zu eng, und ich müsste die zweite noch einmal umtauschen. Dann hätte ich aber zweimal die gleiche Hose gekauft. Ausserdem kann ich doch nicht schon wieder umtauschen gehen, einmal war peinlich genug, es wurde schon getuschelt. Ich fühle mich in solchen Konsumsituationen immer zwischenmenschlich penetriert und sehne mich nach der erfolgssicheren Kommunikation mit einem Verkaufsautomaten, der mir Unpersönlichkeit ermöglicht, auch wenn ich ihn anschreien und schlagen sollte. Vielleicht sehnt die Verkäuferin sich ja ihrerseits nach einem automatischen Kunden? Vielleicht täten wir uns alle einen Gefallen, wenn wir uns aus dem Weg gingen und das Kommunizieren den Maschinen überliessen?)

Möglicher Titel für potentielles Buch: "Das Ich im Focus des Erlebens"

20 von 230 Seiten

Jochen Schmidt / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Rudi K. Sander:

Solche putzmunteren Typen wie Sie sollten lieber in der Luhmannliste mitschreiben, damit dort wieder Dampf hineinkommt.

05.12.2007 / 22:37