14.12.2007 / 07:37 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Romane, die sofort links abbiegen könnten (1-48)

Auf den ersten Seiten eines Romans werden so viele Entscheidungen getroffen, dass der Leser im Regelfall davon gar nichts mitbekommt. Wenn man zum erstenmal in die Küche geht, um eine Limonade zu holen, stehen schon die Hauptpersonen auf der Bühne, die Zeiten und Orte wurden unwiderruflich festgenagelt und die meisten Verhängnisse huschten schon durch einen Nebensatz. Nach dem Beginn, einer unsichtbaren Grenze, nach zehn Seiten haben wir schon gelesen, was wir auf den nächsten dreihundert Seiten lesen werden.


Oder auch nach rechts
Wenn Sie allerdings auf dem Sofa sitzen bleiben und kurz vor diesem unsichtbaren Taufpunkt innehalten, können Sie ausprobieren, was Sie aus dem Anfang noch machen können. Zum Beispiel eines Ihrer Kinderbücher. Kafkas Schloss lässt sich noch nach einigen Seiten problemlos in Die Jungens von Burg Schreckenstein umbauen. Die drei Fragezeichen lösen das Rätsel des Stechlinsees, Werther heiratet doch lieber Nscho-tschi und Stiller ist nicht Stiller, sondern Pippi Langstrumpf.

Oder Kosztolányis Anfang: Endlich Ferien! Die Tochter des Ehepaars Vajkay, genannt Lerche, darf eine Woche aufs Land fahren. Doch Lerche ist trotzdem unglücklich: die anderen Mädchen sind so schön, sie selbst aber so hässlich. Aber jetzt geht es endlich los. Beim Packen hätte sie fast ihre Zahnbürste vergessen! Alle drei sind ganz aufgeregt, als sie zum Bahnhof gehen. Mutter ermahnt Lerche: "Und iss keine Melonen. Und keinen Gurkensalat. Lerche, iss das ja nicht, auf gar keinen Fall." Als der Zug endlich losfährt, sinkt Lerche in ihren Sitz und fängt an zu weinen. Wenn sie doch nicht so hässlich wäre!

Das war jetzt bis Seite 23. Nun könnte der Roman noch ganz einfach zum Doppelten Lottchen abbiegen und Lerche nach ihrer Ankunft in der Puszta ihre Zwillingsschwester kennenlernen. Oder es könnte auch zum Mord im Orientexpress verzweigen. Oder Lerche reist einfach weiter um die ganze Welt und illustriert das von eigener Hand.

Aber nein, so wird es nicht weitergehen. Die Vajkays gehen traurig nachhause zurück. Eine Woche ohne Lerche, das wird schlimm, ahnen sie voraus.


Detail: "Vielleicht die erste Erwähnung von Gurkensalat in der grossen Weltliteratur," wollte ich schwadronieren. Blödsinn. Drei Minuten nachgucken: J.W. v. Goethe, C. Baudelaire, C. Dickens, Th. Fontane, W. Raabe, ganz zu schweigen von den Zeitgenossen T. Mann und F. Kafka, alle mit hohem Gurkensalatanteil in ihrer Prosa. Übrigens ist die Erwähnung von Gurkensalat, Kartoffelsalat oder Nudelsalat literarisch nahezu überschneidungsfrei, woraus zu schliessen ist, dass sich jeder Autor für Gurke, Kartoffel oder Nudel zu entscheiden hat.


11.12.2007 / 13:55 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Dritter und letzter Prolog: Deszö Kosztolányi (0-0)

Deszö Kosztolányi wurde 1886 in Szabadka geboren, in einer Gegend, auf die alle paar Jahre grellrot "Neue Bewirtschaftung" draufgeklebt wird und die gerade zu Jugoslawien Serbien gehört. Die wesentlich bekannteren Sandor Marai und Antal Szerb gelten als Kosztolányis Nachfolger und stehen als Taschenbuchstapel neben Paulo Coelho.


Deszö Kosztolányi. Dieses Bild ist "Ez a kép közkincs, szabadon felhasználható", was hoffentlich heisst: gemeinfrei.
Die leichte Schlawinerhaftigkeit des Fotos täuscht nicht: Kosztolányi gehörte zur Budapester Bohème und brachte seine Zeit gerne in einem "Kaffeehaus" zu. Leider weiss ich trotz Recherche nicht genau, was ein "Kaffeehaus" sein soll. Es handelt sich ungefähr um einen analogen Vorläufer des Netzes, in dem die Webpages mithilfe eines Zeitungsstocks abgerufen wurden. Es gab dort auch einen "Wirt" (Admin?), bei dem man "anschreiben" lassen konnte, ich vermute, das ist eine frühe Form des Bloggens. Kein Wunder, dass diese analoge Bohème kaum etwas auf die Reihe bekommen hat. Ich erinnere zum Beispiel an den zu Recht völlig vergessenen Oscar Wilde, der mit einem haarsträubenden Roman reüssierte, in dem ein alter Sack sich im Chat als junger, süsser Boy ausgibt; wie oldschool ist das denn.

Viel mehr könnte ich über Kosztolányi berichten, wenn ich Ungarisch könnte, ein Ungar wäre oder eine Ungarin kennen würde. Die ungarisch-englischen Babelfische sind von grandioser Untauglichkeit, und so muss ich mich biographisch etwas behelfen. Er ist 1936 gestorben, und zwar "melyben Babits rehabilitálja fiatalkori barátját, művésztársát", also ich denke mal, an Fiatalkori. Oder mal sehen, was die anderssprachigen Wikipedien dazu meinen: "hän halusi olla yhtä aikaa kepeä ja syvällinen" behaupten die Finnen (Halluzinationen? Schwellungen?), die Holländer begnügen sich mit "Kosztolányi overleed in 1936", die Polen wollen erfahren haben: "Jego styl odznaczał się jasnością i czystością wyrazu", die Bulgaren melden lakonisch: "умира од рак на непцетo", den Japanern blieb sein Tod eher rätselhaft, "1936????????", und endlich, die Spanier, bringen ein wenig Licht hinein: "Muere en 1936 de un cáncer de laringe."


08.12.2007 / 19:30 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Zweiter Prolog: Der schöne Gehülfe (0-0)


Nein!
Die siebzig Jahre post mortem auctoris sind gerade erst verstrichen, als sich gleich zwei Verlage des ungarischen Autors Deszö Kosztolányi annehmen und seinen Roman "Lerche" neu herausgeben. Hier Bibliothek Suhrkamp, dort Manesse Verlag. Ich überlegte zwei Sekunden und entschied mich für Zürich.

Das hat einen einfachen Grund. Ich mag die Bücher aus dem Manesse Verlag. Ich habe den Eindruck, als würde ihre feine Ausstattung auf den Inhalt des Buches durchfärben. In einem Manesse Buch ist es so, dass der Herr seinen Hut zieht, wenn er einer Dame im dunkelroten Leinenkleid begegnet. Wenn er sie besucht, lässt er sich vom Mädchen melden und wartet artig im Salon. Man mag einwenden, dass die Auswahl des Repertoires damit mehr zu tun habe als Fadenheftung und Ganzleinen, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass in einem Buch von Manesse "Ficken" oder "Scheisse" steht. Ein typisches Manessebuch ist zum Beispiel der wunderbare "Gehülfe" von Robert Walser, das ich Ihnen aufrichtig ans Herz lege. Tut mir leid, Suhrkamp.


Ja!
Klappentext. Die Eltern schicken ihre hässliche Tochter Lerche für eine Woche aufs Land und sind froh, dass sie weg ist. Versprochen werden "feine Ironie" und "bestechende Exaktheit im Detail." Kürzlich las ich etwas, bei dem mir ein "weise-ironischer Blick" und "scharfe Beobachtungsgabe" versprochen wurden. Mal sehen. Misstrauisch werde ich sein wie ein Kuhbauer im Italienurlaub.

Das Buch hat 299 Seiten, ist aber nur 1,5 cm dick. Der Grund steht in den bibliographischen Angaben: "Das Dünndruckpapier Primapage Elfenbein liefert Bolloré." Das klingt nach Noblesse und als wäre die Auftragsbestätigung mit Rohrpostbrief verschickt worden. Ich schaue einmal genauer nach. In einem Firmenvideo erklärt mir Monsieur Bolloré das wunderliche Konzernportfolio aus Batterien, Automaten, Afrikatransporten, Fernsehsendern, Papier und begründet es mit höherer Krisenfestigkeit. Toll ist auch der riesige Panther auf dem Regal im Hintergrund. Er verschweigt: Bolloré ist auch das B in OCB und liefert damit nicht nur das Papier für Bibeln und Gesangbücher, sondern ist Marktführer bei der Herstellung langer Zigarettenblättchen, aus denen sich die Rororostudenten hirnzerfressende Joints drehen. Teuflisch! Wir lesen, singen oder rauchen es – ob Roman, Gesangbuch oder Joint: Bolloré kriegt uns alle.


06.12.2007 / 07:11 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Prolog: Die harten und die weichen Bücher (0-0)


Das junge Paar war gerade weggegangen
Hugendubel hat eine neue Bucheinsortierstrategie entwickelt: Hardcover und Taschenbücher stehen nicht mehr säuberlich getrennt, sondern wohnen jetzt zusammen im Regal. Das ist zwar völlig egal, aber ich prangere das an. Vermutlich hat Roland Berger für ein paar Millionen Euro dieses Konzept erarbeitet, damit die Synergien zwischen Taschenbuch und Hardcover zur Optimierung des Kundenwertes gehoben werden können.


Das ist selbstverständlich alles Quatsch. Gerade im Gegenteil war es richtig, gottgefällig und gerecht, das Taschenbuchproletariat vom Leinenadel zu trennen. Wie oft bin ich kalt lächelnd an den zerlumpten Studenten vorbeimarschiert, die vor den Rorororeihen herumlungerten, dann mit federndem Schritt weiter, zu Klett-Cotta und Carl Hanser. Da war es auch viel stiller als in den anderen Abteilungen, die Buchhändler feiner angezogen, und machen wir uns nichts vor: die Kundschaft hatte einfach mehr Klasse.

Alles vorbei. Der neue Regalsozialismus wird uns höchstens ein downbreeding zu den lustigen Taschenbüchern einbringen. Und James Joyce neben Zoe Jenny. Wahrscheinlich verkaufen sie bald sogar an Ausländer oder Bücher mit Migrationshintergrund.

Der ganze Hugendubel? Nein! Dort hinten, da war ein einzelnes Regal, weit abseits der Kundenhorden, die auf der Suche nach billiger Esoterik, Pornografie und Kochbüchern über die Rolltreppen strömten. Ich hielt mich noch einen Moment abseits, denn ein junges, gutaussehendes Paar war vor dem Regal in Streit geraten. Er hielt einen grossformatigen, dunkelblauen Prachtband in Händen, doch die junge Dame rief: "Nein, Volker, du wartest jetzt bis Weihnachten!" und zog ihn davon. Herzig! dachte ich mir und trat näher.

Neben einigen senilen Inselbändchen und etwas Eichborn standen sie, fünf volle Reihen Manesse. Ich griff ins Regal.

0 von 299 Seiten

Bruno Klang / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen


02.12.2007 / 10:48 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Debütantenball (808-928)


Sind so, wie sie aussehen
Das Buch endet, wie es begonnen hat. Es plätschert aus. Genau so gut hätte es zweihundert Seiten vorher aufhören können oder noch zweihundert Seiten weitergehen können. Tom Ripple schiebt einen weiteren tiefgekühlten Minzkuchen in den Ofen (es waren acht Stück im Laufe des Buches, wenn ich mich nicht verzählt habe). Wenn Sie mich jetzt fragen, ob ich Ihnen das Buch empfehlen sollte oder nicht, fällt es mir leichter, zunächst zu raten, wann Sie es besser nicht lesen sollten. Wenn Sie sehr jung sind. Es ist ein Buch über das Altwerden, und Sie kaufen sich doch auch keine Pudelmütze und Wollhandschuhe im Mai. Wenn Sie sehr alt sind. Es ist ein Buch über das Altwerden, und darum haben Sie schon genug Pudelmützen und Wollhandschuhe im Schrank.

Ich hatte schon einmal erwähnt, dass Marisha Pessls "Special Topics in Calamity Physics" als letztes Debüt gelesen habe. Das ist ein Zufall, aber doch ein sehr passender Zufall, weil diese beiden Bücher die perfekten Gegenteile sind. Frl. Pessl lässt keine Seite aus, um nicht eine kleine Rakete funkelnder Lustigkeit auf den Leser abzuschiessen. Desweiteren entwickelt sie einen sehr stringenten Plot, um nach zwei Dritteln gleich das ganze Genre zu wechseln. Chadwick hat überhaupt keinen Plot, wenn man vom Altwerden und Fertigminzkuchen einmal absieht. Als Marisha Pessl geboren wurde, schrieb Chadwick schon einige Jahre an seinem Buch. Sie sind beide fast gleichzeitig fertig geworden.

Auf der anderen Seite kann ich Ihnen sogar Chadwick empfehlen, und zwar dann, wenn Sie etwas Extremes lieben. In diesem Fall ist es ein Extremismus des Durchschnitts (nicht extreme Durchschnittlichkeit), und ich kann mich an kein Buch erinnern, in dem dieses Prinzip so konsequent durchgehalten wird. So können Sie sich mit dem Buch wohlfühlen und sogar erholen. Vielleicht, wenn Sie einen anstrengenden Beruf haben, zum Beispiel Cowboy.

Zustand: Ich habe bei Frau Passig um einige Tage Urlaub nachgefragt. Sie antwortete knapp, ob ich jemals von Urlaub auf einer Galeere gehört habe, von Steinbruchferien oder einem freien Gulagwochenende.
Durchsicht der Prophezeiungen: 2:6, also katastrophal.


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