10.07.2011 / 01:03 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2011
Wenn man die Bachmannzeit im Büro absitzt, hat man mit dem sofortigen Ausdrucken und Lesen des Textes zwar nur wenig vom Kick des Spektakels, aber immerhin kann man sich in Ruhe dem Geschriebenen widmen. Aussehen, Stimme und Vortragskunst des Autors spielen keine Rolle, kein peinliches Videoporträt voller Ich-kann-nur-bei-Regen-schreiben-Geschwurbel beeinflusst das Verhältnis von Erzählung und Leser. In den Sekunden, bevor man mit der Lektüre beginnt, ist man mit sich und seinem Textverdauungsapparat allein, der durch den Anspruch dieser Veranstaltung einerseits, durch die Eindrücke der letzten Jahre andererseits konditioniert ist.
Der Anspruch (implizit, aber vorhanden), dass in Klagenfurt Texte verhandelt werden, die den state of the art des gegenwärtigen Erzählens darstellen oder es zumindest verdienen, mit hochwertigem Besteck öffentlich zerpflückt zu werden, lässt mich das romantisch Übersteigerte wünschen: dass das ein Text ist, der mich restlos überzeugt, der neue Massstäbe setzt, mich nebenbei noch berührt wie nur die Bücher, die ich als Kind oder Jugendliche gelesen habe, und der die Juroren sprachlos macht, höchstens die Merkbefreiten unter ihnen Haltloses dazu meinen lässt. Gleichzeitig rechne ich mit dem Schlimmsten: mit einem Text, der Literatur sein soll. Das geht meistens peinlich schief.
Als ich anfange, Daniel Wissers Text "Standby" zu lesen, stellt sich innerhalb von Sekunden Literaturverdacht ein: "Die Stirn wird betastet. Es wird ein Wort gedacht [...]." Undsoweiter. Die Verwendung der Passivkonstruktion, die die meiste Zeit durchgehalten wird, signalisiert ein Kunstwollen, das mich misstrauisch stimmt. Und ist als Kunstgriff so leicht zu übersetzen und als Bild so unfrisch (Ah! Passiv – das ist doch nicht nur ein Modus, das ist auch ein Adjektiv! Ein nicht handlungsfähiger Mensch, dem die Dinge nur passieren, der sie erleidet, der sich selbst nicht als Agierenden wahrnimmt! Der Mensch in der unübersichtlichen Welt, ein Rädchen im Getriebe ... Und er ist in der Tat gesichtsloser Angestellter eines gesichtslosen Callcenters ...), dass ich mich vom Wunschtraum Text-der-mich-restlos-überzeugt verabschieden muss. Offenkundige, anscheinend unbegründete Mängel beim Einsatz dieses Kunstgriffs bestätigen diese Entscheidung. Ich ärgere mich, weil ich von einem Bachmanntext mehr Originalität in der Themen- und Mittel-Wahl erwarte, und wenn schon nicht das, dann immerhin ein bisschen mehr Sorgfalt.
Dann kommt ein Blödsinnssatz: "Es gibt nichts Schmerzhafteres, als darauf zu warten, dass ein Tag, eine Stunde, eine Woche vergeht." Wenn so eine Aussage erkennbar eine Figur demontieren soll, geht das in Ordnung, aber als allgemeines Statement ist es unerträglicher Unfug, der auf schnellen Konsens geschnitten ist (ja, jeder kennt Langeweile, Stillstand, Perspektivlosigkeit und findets doof), aber tatsächlich jeder Konsensfähigkeit entbehrt (zumindest, wenn Schmerz für Schmerz stehen und nicht eine Schlichtes-Gemüt-Metapher für Frustration, Depression, Apathie sein soll). Jetzt ist es vorbei. Ich steige aus. Der Rest des Textes wird mit verhaltener Aggression geprüft und für schlecht befunden.
Später, zu Hause, im Bett, lese ich das Ganze noch mal. Irgendwie, und es fällt mir weiss Gott schwer, das zuzugeben: gar nicht so scheisse, der Text. Ja, die mangelnde Sorgfalt an einigen Stellen, die nicht ganz schlüssige Ausdehnung des Passivs auf andere Personen, auf leblose Objekte. Muss ich mir noch mal in Ruhe ansehen. Aber im Grunde als Kunstgriff in Ordnung. Ist immerhin mehr nach vorn, als sich die meisten anderen trauen, und eine annehmbare Idee für diese Hauptfigur. Die mich nicht rasend interessiert, die mir trotz der vordergründigen Aktualität (Callcenter) ein bisschen zu künstlich ist, um mir was Brauchbares oder Neues über Mensch und Welt zu sagen, aber egal, der Text funktioniert halbwegs.
Der Satz mit dem Bis-zu-ihrem-Herzen-Sehen: Kann man auch hübsch finden, wie durch die papierne Pedanterie von "ihm" so ein Kitschrosa durchschimmert. Das Bild, wie er die Frau mit einem Schlag aufs Sofa weckt: ziemlich gut. Seine ihn als Handelnden nicht erfordernde Erlösungsperspektive (die weltumspannende Veränderung als einzig möglicher Lebenswendepunkt, sollte das Scheidung- und Vatertod-Abwarten nicht reichen, und dann das Matriarchat): stimmig. Das nebenbei erwähnte Duschverhalten der Frau, sein An-ihren-Klamotten-Riechen: unaufdringlicher, uneindeutiger Hinweis auf ihr mögliches Fremdgehen, den der Text nicht bräuchte und der ihm guttut.
Noch immer nicht der Text-der-mich-umhaut. Wird es auch nicht mehr. Aber dass er bei der zweiten Lektüre mehr Spass macht als bei der ersten, ist nicht das Schlechteste, was man von einem Text sagen kann.
Britta Krawtschik / Dauerhafter Link