30.06.2011 / 12:23 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte / Viele lesen: Klagenfurttexte 2011
Bielefeld
Von Antonia Baum gibt es noch kein Buch. Als ich aber am Montag die FAS durchblätterte, wunderte ich mich über eine Rezension zu Andreas Doraus Album "Todesmelodien". Da geht es in den ersten 25 Zeilen ums ICE-Fahren, und das einzige, was mich daran froh macht, ist, dass Bielefeld (jaja, das gibt es wirklich) verschont wird. Geschrieben hat das Antonia Baum. Sie ist wohl das "man", das nicht begreift: "Was man sieht, ist nur der Bildschirmschoner, denkt man, aber dann hält der Zug an irgendeinem Bahnhof, und wieder: Man begreift es nicht." Was gibt es daran zu begreifen oder nicht zu begreifen? Da wohnen und arbeiten Leute, also hält der Zug, Leute steigen ein und Leute steigen aus. "Man möchte Wolfsburg, Kassel oder Braunschweig begreifen, man begreift es aber nicht, ..."
Was das mit Andreas Dorau zu tun hat: Dass die Autorin beziehungsweise dass "man denkt, man sei alleine mit der Unbegreiflichkeit" (bzw. ihrem Unvermögen zu begreifen) dem ICE, Kassel, Wolfsburg, Braunschweig und Andreas Doraus neuem Album gegenüber. Mir dagegen ist unbegreiflich, warum die Autorin einer Service-Kraft, die einfach ihren Job macht, vielleicht nicht mal ungern, unterstellt, dass es ihr "überhaupt nicht gut gehen kann in ihrem Deutsche-Bahn-Kleid." Nur, weil sie selber nicht gerne so ein Kleid anziehen würde?
Man begreift es nicht. Kassel ist einfacher. Aber wieso sind eigentlich alle, wirklich alle Schranken zu?
Antonia Baum sitzt im Videoportrait in einem Berliner Café, sieht ganz anderes aus als auf ihrem Autorenfoto und ist lieber drinnen als draussen. Im September erscheint ihr erster Roman "Vollkommen leblos, bestenfalls tot", Artikel von ihr kann man in der Freitag nachlesen. Sie liest auf Einladung von Hubert Winkels.
Kommentar #1 von Volker Jahr:
Es ist unfair, Kassel mit Wolfsburg und Braunschweig in einem Atemzug zu nennen. Kassel ist deutlich attraktiver. Und Kassel ist zum Beispiel auch der Austragungsort der Deutschen Leichtathletikmeisterschaft 2011! Und wer Antonia Baum heisst und in Borken geboren ist, der sollte überhaupt beten, dass dieser Umstand den wortspielfreudigen Rezensenten in Klagenfurt nicht auffällt.
30.06.2011 / 13:23
Kommentar #2 von frauziefle:
Die draussen/drinnen Frage trieb mich ebenfalls um.
"Isst" sie lieber drinnen als draussen? Was spannende Fragen aufwerfen könnte. Zum Beispiel: warum?
Oder handelt es sich tatsächlich um ein schnödes "ich bin" im Sinne von "ich befinde mich", wobei "befinden" ... lyrisch, grossgeschrieben, das Innere nach Aussen kehren, drinnen, draussen, ... ach, das freie Assoziieren!
Freue mich sehr auf die Autorinnenvideokritik mit Rolltreppe UND Spiegel UND zerbrochenem Glas!
30.06.2011 / 17:45
Kommentar #3 von Angela:
Sie haben doch schon alles erwähnt.
Den Fall, dass Füsse in Grossaufnahme über zerbrochene Spiegel gehen, haben wir nicht vorhergesehen, auch wenn man ihn hätte vorhersehen können.
Ich glaube, Antonia Baum meint tatsächlich, dass sie lieber im Café sitzt als durch den Wald zu stromern, und das finde ich erfrischend.
30.06.2011 / 17:48
Kommentar #4 von frauziefle:
das sollte ich mir nochmal ansehen / -hören. Wald muss ja wirklich nicht.
30.06.2011 / 18:09
Kommentar #5 von Sebi:
Lieber drinnen als draussen ist man bestimmt nicht wegen des Waldes, wenn man in Berlin lebt, diesem Moloch, das überquillt vor Hysterie, Hässlichkeit u. kaputten Menschen u. in dem man doch lebt, weil man im Rest des Landes vor Langeweile erstickt. Wie weicht man einem "Draussen" aus, das man nicht aushält u. vor dem man nirgendwohin flüchten kann, weil es nicht an einen Ort gebunden ist, sondern an Menschen? Man geht in einen menschenleeren metaphorischen Wald und denkt darüber nach. ;)
15.07.2011 / 01:13
Kommentar #6 von Angela Leinen:
Ja, das habe ich schon mal gehört, dass Leute glauben, dass man "im Rest des Landes vor Langeweile erstickt". Wenn die Kinder immer wieder "mir ist langweilig quengeln", dann rutscht es mir manchmal raus: "Dir ist nicht langweilig, Du BIST langweilig."
Es gibt sicher viele Gründe, in Berlin zu leben, das ist einer der weniger überzeugenden.
15.07.2011 / 06:59
Kommentar #7 von Sebi:
Daran ist sicherlich viel Wahres, aber gesetzt den Fall: Ich bin nicht langweilig und ich möchte einmal nicht mit mir und meinem Kopf allein sein und es ist nachts halb 3 und Sommer und ich bin jung und kann nicht schlafen und ich will: warmen Bagel mit Frischkäse und Salat und Stimmen, Bewegung und Musik. Dann stehe ich leise auf und gehe hinaus in ein Lichtermeer. Berlin,...das plötzlich erstrahlt. Und ich weiss, der Rest des Landes hat geschlossen und liegt in dumpfen Koma.
15.07.2011 / 18:59