19.06.2010 / 11:53

Göring, der sybaritische Sybarit


Und zwar sowohl menschlich
als auch sachlich.
Was Goebbels vor 1943 von Göring hielt, werde ich lesereihenfolgenbedingt erst viel später herausfinden. Im März 1943 jedenfalls war er milde gestimmt: "Göring ... trägt eine etwas barocke Kleidung, die, wenn man ihn nicht kennte, ein bisschen komisch wirken würde. Aber er ist ja so, und man muss sich schon mit seinen Originalitäten abfinden; ja sie haben manchmal etwas direkt Sympathisches an sich."

1944 verlassen Goebbels seine Abfindefähigkeiten: "Über das Versagen Görings, und zwar sowohl menschlich als auch sachlich, ist der Führer ausserordentlich traurig. Er kann es nicht verstehen, dass Göring bei der jetzigen Härte des Krieges immer noch seinen alten luxuriösen Lebensstil pflegt, dass er sich in pompöse Uniformen kleidet. So berichtet mir der Führer beispielsweise, dass er bei einem Besuch einer Fallschirmdivision plötzlich vor ihm in Fallschirmjägeruniform erschienen sei, was geradezu grotesk gewirkt und bei den umstehenden Generälen des Heeres nur Lächeln erregt habe." Falsche Uniformen zum falschen Anlass, offenbar ein Problem in Kriegszeiten. Im Februar 1945 bemängelt Goebbels: "Es ist beispielsweise eine grobe Stillosigkeit, dass der erste Offizier des Reiches in dieser Situation des Krieges in einer silbergrauen Uniform herumläuft. Welch ein weibisches Betragen den Ereignissen gegenüber!" Man könnte vermutlich googeln, was hier das Problem ist, trägt der Gentleman in verlorengehenden Kriegen schwarze Uniform? Ist Silbergrau bestimmten Kriegssituationen vorbehalten, vielleicht dem Überfall auf besonders kleine und niedliche Länder wie Luxemburg? Aber ich möchte lieber meine Unwissenheit in Fragen der Herrenmode behalten, man weiss ja, wohin so was führt, als Nächstes befasst man sich mit Krawattenknoten, Manschettenknöpfen und Völkermord.

"Der ganze Lebensstil, den Göring augenblicklich pflegt, ist dem Führer widerwärtig und ekelhaft geworden. Er ist natürlich nur eine Folge der übertriebenen Genusssucht des Reichsmarschalls, die er zu überwinden einfach nicht die Kraft besitzt. Der Führer betont ganz richtig, dass Göring durchaus nicht eine so eiserne Persönlichkeit ist, wie er früher immer geschildert wurde, er ist au fond ein weichlicher und anfälliger Mensch (...) Der luxuriöse, um nicht zu sagen sybaritische Lebensstil Görings hat sich ... in der Luftwaffe nach unten fortgepflanzt. Darauf ist in der Hauptsache die Korruption und die moralische Anfälligkeit der Luftwaffe zurückzuführen. Die Waffe kann zu grossen Teilen als verdorben angesehen werden." (2.12.44) "Wenn Göring nicht so völlig ausserhalb der Reihe stände. Er ist kein Nationalsozialist, sondern ein Sybarit, von einem Jünger Friedrichs des Grossen ganz zu schweigen." (28.2.45)

Die Existenz der Sybariten war mir bisher mangels Griechischunterricht unbekannt, und dabei gibt es über das antike Sybaris so viel Schönes und Wichtiges zu sagen. Die Sybariten haben die Badewanne und den Nachttopf erfunden, wobei der Nachttopf "allerdings nicht unter das Bett gestellt, sondern zu Gastmählern mitgenommen" worden sei, warum auch immer. Ausserdem hatten sie die richtigen Prioritäten im Leben: "Die Sybariten duldeten keine lärmintensiven Handwerke wie Schmiede und Zimmerer in der Stadt. Um den Schlaf der Anwohner zu schützen, durften nicht einmal Hähne gehalten werden." Weil die Sybariten bis auf einen einzigen Sieg im Knabenboxen bei den Olympischen Spielen nichts zustandebrachten, richteten sie zeitgleich selbst Spiele aus; "Siegespreise in ungewöhnlicher Höhe wurden ausgesetzt, damit sich Athleten statt für olympischen Ruhm für sybaritisches Geld entscheiden sollten." "Was die Gesundheit und deren Erhaltung betraf, so wurde es für gesund erachtet, viel zu trinken und die Nacht zum Tage zu machen." Der Sybarit Smindyrides soll in 20 Jahren weder Sonnenaufgang noch Sonnenuntergang gesehen haben.

Es gibt Anekdoten über die Sybariter, in denen sich unter anderem ein Sybarit einen Bruch zuzieht, indem er einem Landarbeiter bei der Arbeit zusieht. Ein anderer "wollte nach Kroton fahren und mietete ein Schiff für sich allein. Der Kapitän musste ihm zusichern, dass er nicht nassgespritzt würde. Dann wollte er einen Freund überreden, ihn zu begleiten: 'Ich habe mit dem Kapitän vereinbart, dass er sich nahe am Land hält.' Darauf der Freund: 'Was? Ich würde mich kaum zu einer Landreise längs der See überreden lassen, geschweige zu einer Seereise längs des Landes!' (Mehr Sybaritenscherze im Wikipedia-Eintrag Tryphe.)

Ich finde das lustig; Goebbels nicht so. "Ordenbehängte Narren und eitle, parfümierte Gecken gehören nicht an die Kriegsführung. Entweder ändern sie sich, oder sie müssen eliminiert werden. Ich werde nicht ruhen und nicht rasten, bis der Führer hier Ordnung geschaffen hat. Er muss Göring innerlich und äusserlich ummodeln oder ihm den Stuhl vor die Tür setzen." Das war im Februar 1945. Noch ehe das Jahr um war, eliminierten sich alle drei, die Parfümierten und die Unparfümierten. Gut, dass es die Sybariten nicht mehr gibt; vermutlich fänden sie es beleidigend, Göring so bezeichnet zu sehen. Ein anständiger Sybarit fühlt sich nicht zu Genozid, Plünderungen und – sei es noch so nachlässiger – Luftkriegsplanung hingezogen. Schon wegen des frühen Aufstehens.

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