15.06.2010 / 11:48 / Kathrin Passig liest: Dark Light: Electricity and Anxiety From the Telegraph to the X-Ray (Linda Simon)

Macht uns der Phonograph dumm? (246-302)

Für die Sammlung immergleicher Technikbedenken: Gefahren des Phonographen. "... the phonograph has 'improved the time' by invading privacy, spewing propaganda, and substituting generic patter for considered responses. It has become indispensable by making its users expect the constant stimulation of news, information, and sound. It has made the skills of reading and spelling obsolete; even more ominous, it has become a substitute for face-to-face interaction." (Kein zeitgenössisches Zitat, sondern eine Zusammenfassung der Autorin.)

Auf der World's Columbian Exposition in Chicago kann man im Jahr 1893 Lampen, elektrotherapeutische Korsetts, Haushaltsgeräte und Lockenstäbe betrachten. Leider sind Stecker und Steckdosen noch nicht erfunden. Jedes Gerät muss direkt mit der häuslichen Stromversorgung verkabelt werden; erst nach der Jahrhundertwende kann man Geräte an eine Deckensteckdose anschliessen. Beim Lesen dieser Stellen fühle ich mich so, wie sich vermutlich künftige Leser fühlen werden, wenn sie vom heillosen Netzteildebakel des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts lesen. "Man brauchte für jedes Gerät ein eigenes Netzteil! Die Haushalte quollen über von Netzteilen!"

Aber viele Bürger können sich sowieso keine Elektrogeräte leisten, weder mit noch ohne Stecker. "Whether equality and happiness could be connected to technological progress was a disturbing question. Would electricity become a factor in social and economic reform, or merely contribute to the exploitation of workers? Would it become a force for moral good, or for evil? In a nation that seemed divisive and fragmented, could electricity serve as a unifying force, empowering rich and poor alike, easing labor, raising the standard of living, and creating social harmony?" Auf eine Art ja; die schlechtbezahltesten Arbeiten sind heute deutlich weniger knochenbrechend als im 19. Jahrhundert, und auch arme Bürger haben Licht, Heizung, fliessend Wasser und Fernsehen. Aber gerade weil die Elektrizität allen gleichermassen zugutekommt, hat sie die equality nicht befördert, sondern nur die Ungleichheit auf ein höheres absolutes Niveau gehoben. Das wird dann beim Internet wohl auch so sein.

Vermutlich beruhte meine Vorstellung von Problemlösungen durch Technik auf der Tatsache, dass das Internet für mich persönlich so grosse Vorteile mit sich gebracht hat, und die Technikskepsis anderer Menschen darauf, dass sie selbst bisher keine private Weltverbesserung erkennen können. Zumindest hatte ich diesen Eindruck bei der letzten Diskussionsveranstaltung zum Thema, zu der ich eingeladen war. "Wir unterfüttern Argumentation mit Erfahrung" zitierte mich die Regionalpresse später, dabei hatte ich das Gegenteil gesagt, nämlich dass wir nachträglich nach Argumenten suchen, die zu unseren Erfahrungen passen. Dass solche vom privaten Eindruck geformten Ideen zu falschen Zukunftsvorhersagen führen, muss egal sein; Zukunftsvorhersagen sind sowieso fast immer falsch. Aber dass "allgemeine Weltverbesserung" nicht gleichbedeutend ist mit "alles wird gut", das werde ich künftig im Auge behalten.

"As the century ended, it became clear that inventions were not the answer to complex problems."