23.11.2008 / 17:21 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Ockhams Rasiermesser (210-229)


Materie, beobachtet. (Bild: Coradia1000, Lizenz.)
René Descartes hat seine philosophische Agenda jetzt im Wesentlichen durchgezogen. Der Argumentationsweg war seit der 1. Meditation ganz heftig rationalistisch, empirischer Input musste aufgrund des universalen Zweifels vor der Tür bleiben. Jetzt aber, zum Ende der Meditationen, wird die materielle Welt wieder in einen gebührlichen ontologischen Status gehoben – damit wir alle beruhigt nach Hause gehen können. Hoffentlich.

Es ist von Nutzen, sich zum Beweis der Existenz der Materie nochmal das Szenario vor Augen zu führen, das den universalen Zweifel mit Leben füllt:

Die ganze Aussenwelt mit ihrem Leben und Geschehen, das wir tagtäglich durchmachen müssen, ist nichts als eine dicke virtuelle Fiktion, die uns von einer externen Matrix eingespeist wird: Unser Geist läuft auf einer Art Mental-Plasma und ist mit einem mentalen Interface versehen, das ihm ein komplettes Set an Sinnesreizen liefert, eine dreidimensionale Welt mit allen optischen und sonstigen sensorischen Eindrücken (Geräusche, Gerüche, mechanische Krafteinwirkungen und auch Körpergefühle, etc.). Wie ein perfektes Computerspiel. Diese virtuelle Welt existiert nicht real, sie ist lediglich ein Programm der grossen Matrix. Alle Räume mit ihren Dingen und Ereignissen darin sind mentale Hologramme und existieren nur so lange, als einer oder mehrere "Spieler" anwesend sind; ansonsten verschwinden sie wieder. Man könnte jetzt sagen: Geh doch bei Rot über die Ampel, dann siehst du schon, wie real die Welt ist. Aber auch Unfälle können von der Matrix vorgespielt sein: Ein heftiger virtueller Reiz-Input und dann wird unser Geist runtergefahren.


Materie, unbeobachtet. (Bild: Niemand.)
Für dieses Szenario gibt es in der Tat harte Argumente: Die beobachtbaren Eigenschaften eines externalen Objekts entstehen überhaupt erst, wenn ein Beobachter da ist, der sie beobachtet – und sie existieren auch nur so lange, wie sie beobachtet werden. Ein Ding "sieht" nicht aus, wenn niemand da ist, der es anschaut, es macht keine Geräusche, wenn niemand da ist, der hört – beobachtbare Eigenschaften existieren nur als aktuell beobachtete Eigenschaften. Auch wenn man versucht, sich das Objekt vorzustellen, während man es nicht mehr beobachtet, kann man dies in der Erinnerung nur anhand bereits beobachteter Eigenschaften tun. Das äussere Objekt hat an sich auch keine den beobachteten Eigenschaften ähnliche Eigenschaften, denn entweder sind diese ähnlichen Eigenschaften dann selbst beobachtbar und somit in ihrer Existenz von einem Beobachter abhängig und nicht an sich existierend, oder sie sind nicht beobachtbar – dann sind sie beobachtbaren Eigenschaften auch nicht ähnlich. Über ein geistunabhängiges Objekt können wir, so wie es an sich jenseits aller Beobachtbarkeit und Denkbarkeit existiert, überhaupt nichts wissen; auch nicht durch Rückschlüsse, denn man kann nur Rückschlüsse auf etwas ziehen, das irgendwie bekannt sein kann. Was nicht bekannt sein kann, kann auch nicht erschlossen werden. Folglich ist das external-materielle Objekt nicht der Träger der beobachtbaren Eigenschaften. Damit kann man es dem ontologischen Sparsamkeitsprinzip zufolge elimineren (Ockhams Rasiermesser). Denn wozu braucht man einen rein hypothetischen Eigenschaftsträger, von dem man überhaupt nichts wissen kann? Die Objekte unserer Wahrnehmung sind von der Matrix koordinierte Bündel von beobachtbaren (d.h. von beobachteten) Eigenschaften. Wenn mal kein Beobachter anwesend sein sollte, wird die Kontinuität der Objekte dadurch gewährleistet, dass sie als für uns potenziell beobachtbare Dinge im Programm der Matrix enthalten sind (und somit von der Matrix selbst permanent als ihre eigenen Gedanken aktuell wahrgenommen werden). Es gibt also keine substanziell existierende materielle Welt hinter den empirischen Beobachtungen.

Diese These lässt sich nicht empirisch widerlegen, denn man kann nicht mit empirischer Beobachtung hinter die empirische Beobachtung gucken, ob da was Reales ist oder nicht. Descartes widerlegt die These also metaphysisch, indem er die Existenz Gottes bewiesen und damit die Existenz der betrügerischen Matrix ausgeschlossen hat. Gott täuscht uns nicht, ergo gibt es die Materie als Objekt unserer Beobachtungen.

Ich habe ein grosses Problem mit diesem Argument. Descartes sagt, es wäre Betrug, wenn Gott uns die materielle Welt nur vorgaukeln würde. Aber andernfalls hätte er Dinge geschaffen, von denen wir niemals irgendetwas erfahren können – wer erzeugt dann jedoch unsere Beobachtungen? Die materielle Welt ausserhalb aller Beobachtbarkeit vermag dies nicht, denn was von sich her ausserhalb aller Beobachtungen steht, ist per definitionem unbeobachtbar – und etwas, das per se unbeobachtbar ist, kann keine Beobachtungen erzeugen, sonst wäre es ja nicht unbeobachtbar. Kurz: Eine jenseits aller Beobachtungen existierende Materie wäre ein komplett unerkennbares und zudem völlig nutzloses Etwas. Sinnlose Dinge zu erschaffen geziemt sich aber für Gott ebensowenig, wie uns zu betrügen.

Meine provokatorische Frage an Descartes wäre jetzt: Warum sollte es Betrug sein, wenn es hinter den Beobachtungen eben nichts gibt ausser Gott? Die Ontologie, die nur Beobachter und einen Beobachtungen erzeugenden unendlichen Geist annimmt, ist sparsam und einfach und erklärt den ganzen Laden bestens. Dass wir im Alltag glauben, es gebe da tatsächlich so etwas wie geistunabhängige Materie, ist halt nur ein nützliches Feature zur einfacheren Handhabung. Betrug wäre für mich viel eher, wenn da irgendwo ein Zeug herumexistiert, von dem per se niemand jemals etwas wissen kann.

Ich verlasse die Descartes-Lektüre im Dissens mit dem grossen Meister. Was er beweisen wollte, nämlich die externale Existenz der Materie, hat er für mich noch lange nicht bewiesen. Ich werde zum radikalen Idealisten: Es gibt nur Mentales – meinen Geist, den Geist anderer Leute und den unendlichen Geist Gottes.

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Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (7) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Frau Grasdackel:

Ja, Descartes' ewiges Hin und Her – wie soll man da zu einem klaren Schluss kommen? Da lob ich mir doch einen Nietzsche, der einfach weiss, dass er selbst Gott ist.
Vielen Dank für Ihre über ein ganzes Jahr laufende Ausführungen, denen ich in aller Stille, jedoch interessiert, folgte.

24.11.2008 / 04:33

Kommentar #2 von Ruben:

Ne ne, nicht Descartes ist hin und her, sondern ich. Vielleicht war ich in den letzten Beiträgen zu kritisch mit ihm. Und ausserdem sollte ich noch einen abrundenden Schluss schreiben, hm.

24.11.2008 / 13:04

Kommentar #3 von Rudi K. Sander:

"Die Matrix (latainisch matrix für "Muttertier", "Gebärmutter", "Quelle" oder "Ursache") ist jenes Prinzip, nach dem sich nicht entscheiden lässt, ob wir es mit einer Kunstwelt zu tun haben, die in eine Realwelt eingebettet ist, oder umgekehrt mit einer Realwelt, die in eine Kunstwelt eingebettet ist." (Dirk Baecker in "Roboter" in "Nie wieder Vernunft", Kleinere Beiträge zur Sozialkunde, Carl Auer Systeme Verlag, Heidelberg 2008, Seite 195).
Gruss an Ruben Schneider.

25.11.2008 / 13:42

Kommentar #4 von Ruben:

Hallo Herr Sander,
dazu muss ich nachschieben: Auch wenn ich oben von Fiktion vs. Realität spreche, vertrete ich in dem Beitrag keinen Antirealismus. Indem ich sage, alles ist mental, sage ich nicht, es sei deswegen irreal. Auch die von der Matrix bzw. von Gott erzeugten geistabhängigen Beobachtungen sind real. Sie sind nur eben nicht external existent, sondern innerhalb des Geistes (meines Geistes und des unendlichen Geistes Gottes). D.h. ich vertrete einen objektiven Idealismus: Die Welt ausserhalb meines Geistes ist objektiv real, nur eben nicht materiell, sondern als mentale Entitäten in einem absoluten Geist.
Ich bin Descartes gefolgt beim Ausstieg aus der Materie, aber seinen Schritt zurück zu ihr gehe ich nicht mehr mit.

25.11.2008 / 20:48

Kommentar #5 von Frau Grasdackel:

Das stimmt, Descartes' Hin und Her war von Anfang an nur gespielt, er hatte nie wahre Zweifel an der Existenz eines sogar christlichen Gottes. Er wollte im Prinzip nur das beweisen, was vorher schon feststand, nur eben auf seine bessere Art und Weise. Seine Furcht vor der Kritik der theologischen Fakultät etc., und seine Bereitschaft deshalb sogar Änderungen vorzunehmen, hat mich sehr gestört. Für mich hat er auch nichts bewiesen, ausser seine katzbuckelige Loyalität gegenüber der damals vorherrschenden Meinung.
Aber wenn Sie noch etwas abrunden wollen, dann würde ich mich darüber freuen.

26.11.2008 / 04:18

Kommentar #6 von Ruben:

Nein, das kann man, denke ich, so nicht sagen, dass das alles nur gespielt ist. Ich kenne niemanden, der Skepsis und Zweifel an allem so radikal und dabei so rational und systematisch durchgeführt hätte wie Descartes. Wenn man seinen Gedankenweg mitmacht, aber beim letzten Schritt nicht mitgeht, sieht man, welch heftige Konsequenzen seine Philosophie haben kann: Man landet z.B. in einem harten Idealismus. Das zeigt, dass man es nicht mit einer blossen Spielerei zu tun hat, sondern mit einem Meilenstein der Geistesgeschichte. Und anschliessend kam ja auch der ganz dicke Idealismus, der kritische Idealismus Kants, der subjektive Idealismus Fichtes, der objektive Idealismus Schellings und der absolute Idealismus Hegels. Zugleich brach die Gegenseite voll auf: Der totale Materialismus. Die ganzheitliche Sicht der Welt vor Descartes ist seitdem so ziemlich den Bach runter. Da hat Descartes schon echt ordentlich reingehauen.
Hm, ich sehe schon, nagut, dann kommt eben noch eine Abrundung.

26.11.2008 / 12:22

Kommentar #7 von Tyrone:

Ach, wie einfach das doch alles gelöst sein kann! Die guten alten Phänomenologen haben's nämlich erkannt. Anschnallen: Ob das, was da draussen zu sein scheint jetzt wirklich da ist oder nicht, ist letztlich unbeantwortbar. Die Tatsache, dass es so scheint als wäre es da, ist auch schon alles, was wir darüber mit ein wenig Sicherheit sagen können. Also bleiben wir doch gleich dabei: Alles was so wirkt, als wäre es da, akzeptieren wir als wirklich existent. Wir können ja Informationen schliesslich nur über unsere Sinne aufnehmen, warum sollten wir dann nicht gleich auch diese als Tor zu Welt betrachten – und einfach mal "ja" zu den Dingen sagen, wie sie wirken?
Aber zu Descartes Schutz sollte man vielleicht anmerken, dass seinerzeit so Ideen wie "Gott? Gibt's nich" oder noch besser "Gott? Ihr meint mich?" ganz ganz ganz übel ankamen. Also selbst wenn er anderer Meinung gewesen wäre, hätte er das nicht schreiben können.

30.11.2008 / 22:51