25.02.2008 / 14:21 / Michaela Gruber liest: Über die Liebe (Stendhal)

Himmel über Berlin (82-100)


Quelle: conceptworker auf flickr
Im einundzwanzigsten Kapitel empört Stendhal sich darüber, wie junge Mädchen an den Mann gebracht werden, ihn erinnert das an Prostitution.

"...eine ganze achtbare Gesellschaft wünschte dem Fräulein von Morille, einem jungen, schönen, klugen und tugendhaften Wesen, Glück, dass es den Vorzug geniessen soll, die Gemahlin des Herrn R. zu werden, eines kränklichen, abstossenden, ungezogenen und schwachsinnigen, aber reichen Greises."

Angewidert von dem Jubel, den eine solche Verlobung auslöst, prophezeit er, dass dieselbe Gesellschaft sich später verlogen über den geringsten Fehltritt der "jungen, liebesbedürftigen Frau entrüsten wird."
Stendhals zehn Jahre später erscheinender Roman Rot und Schwarz wird von der katholischen Kirche auf den Index gesetzt werden und schon in seinem ersten Buch wird deutlich, dass die Abneigung gegenseitig war.

"Die meiste Schuld an den Schäden, an dem ganzen Unglück, dass unseren modernen Ehen entspringt, trägt die katholische Lehre. (...) Nach den drei in der Kirche gesprochenen lateinischen Worten einem Manne ins Bett zu folgen, den man nur zweimal gesehen hat, ist entschieden schamloser, als sich willenlos einem Manne hinzugeben, den man zwei Jahre angebetet hat."

Die Mädchen werden für ihn doppelt betrogen, erst durch die erzwungene Wahl, später indem man ihnen die Scheidung verbietet. Aber es gibt auch Beispiele für eine fortschrittlichere Familienpolitik.

"Man stelle einen Vergleich mit Deutschland, dem Lande des guten Ehelebens an! Eine liebenswerte Fürstin hat soeben regelrecht und in aller Ehrbarkeit das viertemal geheiratet, und nicht verfehlt, zu den Festlichkeiten ihre drei früheren Gemahle einzuladen, mit denen sie sich vortrefflich versteht."

Anscheinend hat der Verfall der Sitten hierzulande schon vor 1968 begonnen. Auch wenn es seltsam klingt, für Stendhal ist Deutschland das Land der Liebe, ausgerechnet hier lässt er den Blitz einschlagen. Als Beispiel für einen "Coup de Foudre" führt er die Geschichte der schönen und tugendhaften Wilhelmine an, die die Berliner Stutzer zur Verzweiflung bringt, selbst "die liebenswertesten Männer hatten es aufgegeben ihr je zu gefallen". Bis sie eines Abends auf dem Ball des Prinzen Ferdinand zehn Minuten mit einem jungen Hauptmann tanzt. Später schreibt sie an eine Freundin:

"Seit diesem Augenblick war er der Herr meines Herzens und meiner selbst, und das in einem Masse, dass ich zutiefst hätte erschrecken müssen. (...) Noch in der Erinnerung, wie schnell und unwiderstehlich es mich zu ihm hinzog, erröte ich. Wenn sein erstes Wort, als er endlich mit mir sprach, gewesen wäre »Beten Sie mich an?«, wahrhaftig, ich hätte nicht die Kraft aufgebracht, anders als »Ja« zu antworten."

Angeblich sind das Wilhelmines eigene Gedanken, "wörtlich übersetzt aus von Bothmers Erinnerungen". Ich denke, dass Stendhal selbst dieser von Bothmer ist, und wir hier miterleben, wie sich der Romancier in ihm mehr und mehr gegen den Philosophen durchsetzt, der die Liebe als rein abstrakte Angelegenheit verhandeln wollte.
Die Geschichte endet tragisch, "alles, was wir an diesem jungen Hauptmann rühmen können, ist, dass er vorzüglich tanzte". Dass sie deshalb gleich Gift nimmt, finde ich einen unnötigen Schluss, die Erklärung für die plötzliche, heftige Liebesattacke aber hätte Doktor Freud siebzig Jahre später auch nicht schöner formulieren können.

"Ein Weib, ungestillt von der Liebe, dass im Unterbewusstsein durch den Anblick glücklicher Frauen beeindruckt wird, wendet sich in seiner Seele gegen die Lebensangst, und weil sie der traurige Ruhm der Unnahbarkeit nicht mehr befriedigen kann, erschafft sie sich heimlich ein Wunschbild."


100 von 387 Seiten

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