16.02.2008 / 10:41 / André Fromme liest: Bücher (von Autoren)

Nebenhöhlenblues (0-45)


Bei Kerzenlicht neben sich stehen und T-Shirts falschrum tragen. So wird's gemacht.
Eines der letzten Wochenenden habe ich in Amsterdam verbracht. Dort habe ich auf Anregung meiner Freundin hin das mich ausgesprochen kalt gelassen habende »Life of Pi« (Deutsch: »Schiffbruch mit Tiger«) auf einer Metrohaltestellenbank liegen gelassen. Ein Werbe-Post-It-Zettel wies den Finder (m/w) auf Englisch und Niederländisch darauf hin, dass er das Buch nehmen, lesen und weitergeben möge, wenn nötig auch unter Auslassung des zweiten Schritts. Es hat mir den Tag nicht unwesentlich versüsst, dass ich keine fünf Minuten nach dem Liegenlassen des Buchs – ich sass inzwischen schon in einer kurz vor dem Losfahren befindlichen Metro Richtung Amsterdam Zentrum – beobachten konnte, wie jemand erst skeptisch auf das Buch schaute, den Zettel bemerkte, näher herantrat und das Buch schliesslich auf- und mitnahm.

Wie man anhand dieser stimmungsvollen Einleitung unschwer erkennen kann, befinde ich mich derzeit beruflich, persönlich und generell-strukturell in einer Umbruchsphase. Die Details möchte ich dem Leser ersparen, aber ich übertreibe nicht masslos, wenn ich sage, dass kaum ein Sockenstapel auf dem anderen bleibt.

Zeit bleibt also vorrangig für kurze Bücher, meine Aufmerksamkeitsspanne ist schliesslich äusserst gering im Moment. Nebeneffekt: ich bin, was das Verlagswesen wie auch die Buchhändler freuen wird, derzeit eher Buchkäufer als -leser, denn die meisten Bücher haben eben doch mehr als die für an temporärer Kurzaufmerksamkeit leidende Menschen verkraftbaren maximal 200 Seiten. Das längste Buch, das ich in letzter Zeit gelesen habe, »A year in the merde« von Stephen Clarke, hatte zwar 382 Seiten, war mir aber derart unangenehm, dass es schon nach knapp über 100 Seiten mit grosser Befriedigung in die Altpapiertonne befördert wurde. Insgesamt lande ich in den letzten zwei Monaten bei einem bereinigten Schnitt von guten 140 Seiten/Buch. Der Schnitt der in derselben Zeit von mir gekauften oder geschenkt bekommenen Bücher dürfte derweil eher bei etwa 340 Seiten/Buch oder mehr liegen. Schlimm.

Zuletzt aus meinem Fundus ungelesener Bücher gegriffen, weil es so schön kurz ist (106 Seiten): »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter« von Peter Handke. In der faszinierend sterilen Ausgabe der SZ-Bibliothek übrigens.

Das Buch begleitet den ehemaligen Tormann Bloch, dessen Name bereits angenehm nach dem Hauptverdächtigen in einer Folge »Derrick« klingt. Kaum freue ich mich hierüber, begeht Bloch auch schon einen Mord. Weniger aus böser Absicht und grundsätzlicher Gewaltneigung als aus Verplantheit. Ich entschuldige mich direkt für dieses Modewort, dessen Bedeutung man in etwa drei Jahren nur noch in einem dann aktuellen Wörterbuch der Jugendsprache finden wird. Nichtsdestotrotz – Verplantheit trifft es. Bloch interpretiert am laufenden Band Bedeutungen in Handlungen und Gegenstände hinein. Wer tut das nicht. Aber bei Bloch ist wohl ein Filter ausgefallen, der erst einmal schaut, wie sinnvoll die aktuelle Intrepretation und die daraus folgenden Handlungen sind. Das beginnt schon in den ersten Sätzen des Buchs: aus der Tatsache, dass eine nicht ausreichende Zahl von Menschen sein Erscheinen am Arbeitsplatz durch Hochschauen quittiert, schliesst er, dass er definitiv entlassen worden sein muss. Blochs Urteilsvermögen bessert sich im weiteren Verlauf der Geschichte nicht unbedingt. Der bereits erwähnte Mord ist nur eine Folge davon. Josef Bloch wirkt dabei permanent überfordert und getrieben, wovon und wohin auch immer – selbst wenn er in einer Gastwirtschaft ein Bier zu sich nehmen will.

Die Kellnerin nahm das Glas von der Flasche, auf die sie es gestülpt hatte, legte den Bierdeckel auf den Tisch, stellte das Glas auf den Deckel, kippte die Flasche in das Glas, stellte die Flasche auf den Tisch und ging weg. Es fing schon wieder an! Bloch wusste nicht mehr, was er tun sollte.

Nun – ich hatte in den letzten Wochen einen Tag, dem nur etwa 3 Stunden Schlaf vorangingen und war direkt in der Folge erkältet, mit schön zusitzenden Nebenhöhlen. Ich habe zu beiden Gelegenheiten »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter« gelesen und fühlte mich, man möge es glauben oder es sein lassen, wahnsinnig verstanden. Da steht jemand irgendwie neben sich, kommt nicht so recht klar, und ohne weiteren Anlass stellt er fest, dass es ja schon wieder anfängt und dass er nicht mehr weiss, was er tun soll.

Grossartig.

Bei der Lektüre erfahren und für mitteilenswert befunden:
• Warmes Bier zu trinken hilft tatsächlich gegen Erkältung. Und ist tatsächlich so ekelhaft, wie man es sich vorstellt. Womit sich die Frage eröffnet, ob a) der Placebo-Effekt am Werk war oder b) der Körper sich angestrengt hat, die lästigen Bazillen loszuwerden, um sich nicht häufiger mit warmem Bier beschäftigen zu müssen.

André Fromme / Dauerhafter Link