24.01.2008 / 13:43 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

Relativierte Quantentrübsal (609-626)


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Niemand muss glauben, ich wäre irgendwie froh über das 20. Jahrhundert. Es gibt ja Zeitgenossen, die sind glücklich, wenn es an allen Ecken und Enden neue Mysterien gibt, weisse Teilchen springen aus Zylindern und die gute alte Zeit durch einen brennenden Reifen. Aber so geht es nicht, denn wir sind nicht auf der Welt, um uns noch mehr Rätsel auszudenken, wenn es so wäre, könnten wir den gesamten Wissenschaftsbetrieb auch einstampfen und gleich beim Pub-Quiz bleiben. Nein, wir haben einen Auftrag, nämlich den, dass SIE nicht über uns lachen, wenn SIE später die Erde zurück ins Reich holen. So wie wir heute über die alten Griechen lachen mit ihrem simplistischen Quatsch. Wie sieht das denn aus, wenn wir noch nicht mal wissen, wo ein Elektron genau ist? Oder was es ist? Und ausserdem wann? Sie werden mit den Fingern auf uns zeigen, oder was sie stattdessen haben.

Nein, ich bin betrübt über die Zustände da draussen. Es wäre noch akzeptabel, wenn es sich um blosse Spinnerei handeln würde, fantasievolle Konstruktionen von Österreichern und Dänen. Dänen kann man ja fast alles verzeihen. Was mich wirklich fertigmacht, ist die Tatsache, dass man all die neuen Fantasy-Mysterien messen kann, richtig messen, so mit Kabeln, Weckern und Zeug. Teilchen tauchen auf, verschwinden, überlagern sich, reden miteinander, und alles ist nicht nur ausgedacht. Dieses offensichtlich unvollkommene und unreife Machwerk, das hinten und vorne dem einfachen Menschen nur Unzufriedenheit und Seelenpein beschert hat, vermag es, problemlos die wenigen Fragen zu beantworten, die wir Ende des 19. Jahrhunderts noch hatten. Ja, wir waren nämlich schon mal soweit, wir hatten es alles ausgerechnet, damals, vor den beiden grossen Gemetzeln, nur noch schnell den Photoeffekt und das Michelson-Morley-Experiment klären und fertig. Leider fiel mit den letzten kleinen Details dann die gesamte Welt zusammen. Es ist kein Zufall, dass die Nazis zurück wollten zur blonden, blauäuigen Physik.

Was hier steht, ist die Schrödinger-Gleichung, so etwas wie die Weltformel in einem bestimmten Parameterraum. Auf der rechten Seite vom Gleichzeichen steht erst so was wie die kinetische Energie eines Teilchens, dann die potentielle. Das kennt man vom Stein: Hebt man ihn hoch, wird die potentielle Energie grösser, lässt man ihn fallen, verliert er davon wieder, gewinnt aber Fahrt, also kinetische Energie, sogenannte Energieerhaltung. Auf der linken Seite erkennt man die schöne, eindimensionale Zeit und wie sich alles mit ihr ändert. Dazwischen überall die Wellenfunktion Psi, das unschöne Ding. Und obwohl schon diese bizarre Form der Welterklärung schlimm genug ist, leuchtet es noch ein wenig ein.

Leider ist die Schrödinger-Gleichung falsch. Und zwar, weil sie noch einen richtigen altmodischen Zeitstrahl hat, mit Vorkriegssekunden. In Wahrheit sind Raum und Zeit jedoch nicht unabhängig, sondern bilden, ach, gar nicht darüber nachdenken, überlassen wir das lieber Dirac da in seiner Ecke. Wo ist die Gerechtigkeit? Wir tauschen die Lösung für ein paar winzige offene Fragen gegen ein ganzes Clifford-Bundle neuer "Geheimnisse" und "Probleme" ein, harter Stoff für die nächsten paar hundert Jahre. Sagte ich eben Clifford-Bundle? Unsere Enkel können einem nur leid tun.

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Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (2) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Laika:

Alles könnte so schön sein, wäre man kein Physiker sondern Hirte geworden. Eine Welt ohne Geheimnisse wäre so langweilig, wie der directors cut von in the mood for love. Aber ob nun ausgerechnet ein Elektron und sein Verhalten ein Geheimnis sein muss, das, ja das sei dahingestellt.

24.01.2008 / 21:27

Kommentar #2 von Dingens:

Wie ist die Welt denn so für einen Hirten? Voller Geheimnisse? Oder eben nicht? Ist hier ein Hirte, der sich dazu äussern könnte?
Geheimnisse aufdecken ist bestimmt spannend und befriedigend. Die Geheimnisse allerdings, mit denen sich Aleks Scholz herumschlägt, sind ja manchmal nur über mehrere Generationen aufzudecken. Ist das frustrierend oder im Gegenteil ein tolles Gefühl für einen Mehrgenerationen-Teamplayer? Für mich ist die Welt jedenfalls anscheinend voller Geheimnisse.

24.01.2008 / 21:42