03.01.2008 / 12:00 / André Fromme liest: Esra (Maxim Biller)

Der Anfang vom Ende (121-194)


Maxim Billers bevorzugtes Fortbewegungsmittel auf Lesereise. Quelle, Lizenz
Der Neujahrsblues hat ein hässliches Gesicht: Allüberall ausgefranste Chinaböller, deren rötliche Sandfüllung die Strassen färbt. Dazu einige Sylvesterraketenskelette, die noch auf den Autos und Rasenflächen liegen, auf denen sie einige Stunden vorher ihre Niederkunft hatten. Das alles garniert mit gespenstischer Stille und dem Geruch von abgebranntem Schwarzpulver, der noch leichtfüssig in der Luft hängt. Irgendwo in einer Nebenstrasse spielt eine Trompete ihre traurigen und leicht angejazzten Weisen in den Morgendunst.
Ein guter Tag also, sich mit einem Buch und einem Tee in den nächstbesten Sessel zu setzen. Zu späterer Stunde wird der Sessel durch ein Sofa und der Tee durch Fertig-Feuerzangenbowle aus der Flasche ersetzt.

Womit ich wieder bei »Esra« wäre. Nach endlosen Seiten, auf denen – allen Gegenindizien zum Trotz – Ich-Erzähler und Biller-Doppelgänger Adam versucht, sich einzureden, dass er Esra liebt und sie ihn in Wirklichkeit ja auch, hat er, auf Seite 158, schliesslich einen wunderbaren Gedanken:

Vielleicht hatten Esra und ich ein ganz anderes Problem, als ich immer glaubte, vielleicht waren wir uns gar nicht so nah.

Das lese ich mit ausgesprochener Erleichterung. Vielleicht kommen jetzt auch endlich mal echte Gefühle statt bloss deren Simulation. Aber nein, es kommt wieder das, was Adam am besten kann – ein wenig über sich selbst und sein hartes Schicksal nachdenken. Am Anfang des Buchs fühlte er sich schon so ungerecht behandelt wie Klaus Mann, nun fühlt er sich ebenso vernachlässigt wie der türkische Rabaukenjunge Mehmet es wohl tatsächlich war. Herrje.

Als nächstes: Schwangerensex. Das kommt gut, das ist Tabu, das hat einen leichten Fetisch-Einschlag, wie er Mal um Mal Esras prall gespannten Bauch erwähnt. Bonus-Fetisch-Punkt: Esra ist nicht einmal von Adam schwanger und er weiss das sogar. Prima, denn (Zitat): »Man hat den Spass, aber nicht die Verantwortung.« Der Sex war augenscheinlich gut, aber Sex liest sich in diesem Buch immer etwas unbeholfen-bemüht und gänzlich unerotisch, also kann ich mir nicht ganz sicher sein, ob ich das nun richtig verstanden habe.

Gerade verdrehe ich wieder die Augen ob Adams Geschwurbel, da zieht er mich doch wieder auf seine Seite, denn Esra ist begeisterte und folgsame Wahrsagerinnenbesucherin. Als solche ignoriert sie gute Tipps ihrer Umwelt beflissentlich, leistet ihnen aber sofort Folge, wenn sie ihr noch einmal von ihrer Wahrsagerin unterbreitet werden. Wie schon vorher bei allem, was nach Esoterik aussah, ist Adam wieder schnell auf 180 und ich bin voll auf seiner Seite. Womöglich auch, weil solche Situationen zu den wenigen Gelegenheiten gehören, bei denen ich dem Buch die beschriebenen Emotionen abnehme.

Und doch – jede angenehme und gute Beobachtung wird garniert davon, dass Adam wieder selbstmitleidig darüber mault, dass alle gegen ihn sind (bis hin zur Katze von Esras Tochter) und sich Esra um alles auf der Welt kümmert, aber seine – oft von einer guten Portion Egoismus geprägten – Wünsche nach Kräften hinwegzuignorieren versucht. Da spricht natürlich der Neid, der in einer Beziehung sogar grundsätzlich berechtigt ist. Als Leser denke ich mir trotzdem »Naja, immerhin. Eine Person, von der Esra sich nicht komplett ausnutzen lässt.«

Keine 20 Seiten mehr. Die Frage, wie die Geschichte ausgehen mag, kommt nicht auf (wurde schliesslich schon im ersten Kapitel beantwortet). Eher die Frage, ob auf den restlichen Seiten noch etwas Interessantes passiert.


P.S.: Ganz anderes Thema:

Lieber Eichborn-Verlag – Ihr schuldet dem Lesemaschine-Arbeiter Volker Jahr etwas. Ein Pils zum Beispiel. Ohne ihn hätte sich vermutlich unter meinem Weihnachtsbaum kein hochpreisiger Forster-Band aus Eurem Haus befunden. Mein einziges Problem: in welcher Stellung und an/auf/in welchem Möbelstück liest man dieses Buch am besten, ohne dass Buch und/oder Leser Rückenschäden oder andere Blessuren davon tragen? Für entsprechende Hinweise wäre Herr Jahr vermutlich ebenso dankbar wie ich.

Bei der Lektüre gehört und für von gleissender Eleganz befunden:
Fink – Fink (2001)
Botanica – Berlin Hi-Fi (2006)

194 von 213 Seiten

André Fromme / Dauerhafter Link / Kommentare (2) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von schach:

Eine Möglichkeit die Lektüre des Buches unbeschadet zu überstehen bietet möglicherweise die Benutzung des Stuhls, den sich der Halberstädter Dichter und Dichterhost Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719 – 1803)schon zu Lebzeiten Forsters, also im tintenklecksenden und foliantenwälzenden Säkulum, ausgedacht hat, der es aber leider bis heute nicht zum Designklassiker schaffen konnte: http://www.schaefer-holztechnik.com/images/kleimstuhlvorlage02.jpg

03.01.2008 / 15:44

Kommentar #2 von André Fromme:

Wunderbar und schön, dass man sich zu derartigen Problemen schon früher Gedanken gemacht hat.
Beim örtlichen Möbelhändler leider nicht verfügbar, also werde ich vermutlich improvisieren. Erste Idee: Simulation des Gleimstuhls. Also einen normalen Stuhl umgedreht vor einen Tisch stellen und mal schauen...

04.01.2008 / 14:49