22.12.2007 / 14:50 / André Fromme liest: Esra (Maxim Biller)

Die schönen Rosen (79-120)


Grosse Gefühle.
»Esra« unterhält derzeit nicht besonders, aber es langweilt auch nicht ausgesprochen. Am meisten beschäftigt mich jedenfalls, dass der Ich-Erzähler es tatsächlich langsam schafft, mich auf seine Seite zu ziehen. Natürlich mit seinen eigentlich eher unsympathischen Eigenschaften, zum Beispiel mit seiner ausgesprochenen Intoleranz gegenüber Esoterik und anderem Kram, den er für Gewäsch hält. Da fühle ich einerseits mit und andererseits ist er bei solchen Themen immer schön schnell gereizt, was ich als tollen Running Gag zu schätzen gelernt habe.

À propos toll: das ist auch Adams erstes Abendessen mit Esras türkischer Mutter Lale. Die vorhergehenden knapp 100 Seiten hat er sich nicht wenig Mühe gegeben, zu illustrieren, wie furchteinflössend diese Frau ist. So furchteinflössend, dass er eigentlich – so sagt er jedenfalls, glauben tue ich ihm das nicht – nichts mehr will als ihre Akzeptanz. Trotzdem muss er mehrfach gebeten werden, bis er eine Essenseinladung von ihr annimmt. Aus Angst und Furcht. Spassvogel Adam hat dann letztlich die prima Idee, Esras Mutter zu erklären, dass ihr Engagement für die Kurden ja ganz nett sei, ihn aber brennend interessieren würde, wie sie es mit den Rechten der Armenier1 hält. Wenn ich das kurz in meinen Worten wiedergeben darf:

Adam [gut gelaunt]: »Auf's Maul?«
Lale [etwas dünnlippig]: »Das will ich mal überhört haben. Noch jemand eine Portion Nachos?«
[Der Tisch wendet sich erleichtert anderen Themen zu.]
Adam [wie nebenbei]: »Um noch einmal auf ein ganz altes Thema zurückzukommen – auf's Maul?«
Lale [Zähne zusammen]: »Sag einmal, spinnst du?«
Adam [vermutlich schon im Adrenalinrausch]: »Nein, wieso. Ich mein das ganz im Ernst: soll ich dich hauen?«


Gehauen wird dann natürlich Adam, dem Lale – mit der gebotenen Förmlich- und Höflichkeit – eine Ohrfeige verpasst. Wonach das Essen weiter geht als wäre nichts passiert. Mein erster Gedanke nach dieser Szene war »Was ... ist ... da denn jetzt passiert?« Dass das Abendessen ein Disaster würde, war klar – aber auf diese Art, das ist doch überraschend und hat Stil. Langsam freunden wir uns ein bisschen an, ich und das Buch.

Zum Schluss ein kleiner Exkurs. Schliesslich geht es hier ja um Empfindungsvermittlung. Wer weiter eintauchen und wirklich wissen will, wie sich dieses Biller-Buch ganz in echt liest, ohne dafür Unsummen bei ebay auszugeben, für den habe ich zwei Tipptopptipps.
Erstens: Man gehe zum nächstbesten Privatpatienten-Zahnarzt, schmuggele sich am Empfang vorbei und suche im Wartezimmer die ZEIT Nr. 51/2007 vom 13.12.2007. (Notfalls vermutlich auch in der örtlichen Bibliothek zu finden.) Auf Seite 58 findet man dort den Text »Wie peinlich« von – klar – Maxim Biller. Der ist schön kurz und liest sich wirklich sehr ähnlich wie »Esra«, etwas beklommener Umgang mit Sexualität inklusive (daher auch der Titel des Beitrags).2
Zweitens: Wer nun zu faul ist, diese Initiative zu zeigen, dem kann ich Element of Crime empfehlen. Die haben, anno 1996, ein Stück mit folgendem Text veröffentlicht:

Ich laufe wie ein Trottel durch den Regen
Und du bist gar nicht da
Na dann eben nicht
Ich hänge wie ein Trottel in der Leitung
Und du willst mich nicht sehen
Na dann eben nicht
Schade um die schönen Rosen

»Esra« liest sich genau so wie dieses Element of Crime-Zitat. Ohne den letzten Satz.

1 Der Völkermord an den Armeniern ist für viele Türken ein Reizthema, das ich persönlich frühestens nach einem Jahr und auch in dem Fall erst dann ansprechen würde, wenn die Mutter meiner Freundin (wenn die Türkin wäre) damit beginnt, den siebten Joint des Abends zusammenzuschrauben. Nennt mich Weichei.

2 Wer als erster in einem Kommentar »Hier!« schreit, dem schicke ich den betreffenden Ausschnitt zu. Willkommen bei Lesemaschine, die Mitmach-Edition™.



Bei der Lektüre gehört und für grundsätzlich sympathisch befunden:
So französische Popmusik (2003 – 2007)
Element of Crime – 1991 – 1996 (2002)

120 von 213 Seiten

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