12.12.2007 / 17:50 / Michaela Gruber liest: Über die Liebe (Stendhal)

Viererlei verschiedene Lieben (41-57)


Desire Resort, damals
Quelle: Rolf auf Flickr
Zu Beginn versucht Stendhal des flüchtigen Themas mit einer strengen Gliederung Herr zu werden und bestimmt, dass es vier Formen der Liebe gibt.

"4. Die Liebe aus Eitelkeit". Die allermeisten Männer, besonders in Frankreich, begehren oder besitzen eine Frau als ein zum Luxus erforderliches Ding, so wie man sich ein schönes Pferd hält.


Oder ein Auto, ein Haus, eine Yacht, und alles finanziert von der Sparkasse. Der Wert des zum Luxus erforderlichen Dinges errechnete sich nicht immer durch körperliche Kriterien, auch gesellschaftliche Stellung konnte punkten, was mit dem schönen Satz "für einen Bürger ist eine Herzogin nie älter als dreissig Jahre" illustriert wird.
Bei "3. Die rein sinnliche Liebe" wird mir bewusst, wie erschreckend wenig ich über Sozialverhalten und Fortpflanzungsstrategien des frühen 19. Jahrhundert weiss.

Auf der Jagd einem hübschen frischen Landmädchen nachstellen, das in den Wald flüchtet. Jedermann kennt die Lust einer solchen Liebe; wie blöd und ungeschickt ein Mensch auch sei, mit sechzehn Jahren fängt er damit an.

Ich unterdrücke den ersten Impuls, mir die Nummer der zuständigen Frauenbeauftragten für die Land- und Forstwirtschaft raussuchen zu lassen, und hoffe, dass es sich um ein damals beliebtes Gesellschaftsspiel handelt. Die haben sich ja früher auch als Schäfer und Schäferin verkleidet und fanden das toll.

Das Thema verfolgt mich. Beim Besuch von Doktor Scherer1 letzte Woche, stosse ich auf eine Publikation vom Sommer dieses Jahres, deren Titel zwar auf andere Forschungsgebiete2 verweist, die sich aber auf Seite 54 explizit mit der Materie auseinandersetzt3 . Sabrina, 39, über das Desire Resort in Cancun:

... waren die allgegenwärtigen Amerikaner das einzige, was dem Bild vom perfekten Erotikurlaub einen winzigen Riss zufügte: ihre oberflächliche, laute Art, ihr Liebesspiel, das ebenso beiläufig und belanglos wirkte wie ihre Konversation und die Stillosigkeit der Männer, neben ihrer atemberaubenden, sexy gekleideten Freundin in Bermudas und Schlabbershirt zum Dinner zu erscheinen.


Im Swinger Paradies in Mexiko wird nicht nur die rein sinnliche Liebe, sondern auch "2. Die gepflegte oder galante Liebe" gesucht. Stendhal beschreibt sie als ein Bild,

... auf dem unter keinen Umständen etwas unschön erscheinen oder gegen die Sitte, den guten Ton, das Feingefühl usw. verstossen darf.

In diesem Sinne vorbildlich erscheinen Sabrina die Europäer, die "durch Zurückhaltung brillierten und ihr Sexspielzeug dezent im Strandkorb versteckt hatten." Aber ist es wirklich klug, der galanten Liebe so viel Wert beizumessen? Stendhal:

... zieht man von dieser armseligen Liebe die Eitelkeit ab, so bleibt herzlich wenig übrig; sobald die Hülle fällt, ist sie nur noch ein mühsam sich hinschleppender Schwächling.

Dann doch lieber der schluffige Yankee. Zum Glück begegnet Sabrina der Kolumbianer Eric, der "nicht nur eine akademische Kultiviertheit, sondern auch eine entwaffnende Lebensfreude ausstrahlte", zweifellos eine unschlagbare Mischung.

Stendhal lässt später keinen Zweifel daran, dass für ihn "1. Die leidenschaftliche Liebe" allen anderen Formen überlegen ist, wenn nicht moralisch, so auf jeden Fall in ihrer Intensität. Auf das Wesen dieser Liebe geht er leider nicht näher ein, er setzt voraus, dass, wenn er die Namen "Hauptmann von Wesel", "Heloise" oder "Gendarm Cento" fallen lässt, jeder weiss, was gemeint ist.

1 Facharzt für Zahnheilkunde

2 Amica – Das Frauenmagazin für Mode, Stil, Lifestyle, Schönheit und Trends, Ausgabe August 2007

3 ebd. Der beste Urlaubs-Sex aller Zeiten

57 von 387 Seiten

Michaela Gruber / Dauerhafter Link / Kommentare (5) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Rudi K. Sander:

Auf keinen Fall möchte ich spiessig sein oder kleinbürgerlich, und schon gar nicht möchte ich "verboten" sagen, aber ich meine, so ganz für mich – nach 65 Jahren entsprechender Erlebnisse: Man sollte öffentlich eigentlich nicht reden über
- Religion,
- Politik und
- Liebe;
Soll jeder denken und tun, was ihm beliebt, aber alle drei Themen sind über Gebühr streitbehaftet, Konsens wird es hierzu nie geben.

12.12.2007 / 20:24

Kommentar #2 von Ruben:

Man soll nicht mehr öffentlich über Politik reden? Was haben Sie heute getrunken, Herr Sander?

12.12.2007 / 21:36

Kommentar #3 von Rudi K. Sander:

Was würde Stendhal sagen, wenn er heute in SPIEGEL-Online läse, was man dort alles über "Sex mit Maschinen" erfahren kann. Ich habe staunend die Augenbrauen hochgezogen. So ein Antibbidet im Bad zur unkomplizierten reinen Funktionalität habe ich mir auch schon gelegentlich ausgemalt.
P.S. Lieber Ruben, zu Hause trinke ich meist nur kalten Früchtetee (ohne hinzuschauen, beim Lesen); höherprozentiges trinke ich nur in Rauenthal, nach der Wanderung mit meinen Sängern, am liebsten trockenen Weiswein, Rauenthaler Baiken zum Beispiel.
Über Politik reden, ja, aber nicht streiten.

14.12.2007 / 14:40

Kommentar #4 von Angela Gruber:

tja wenn man die Liebe schon in Kategorien einteilt, dann wüde ich Stendhal – in diesem Fall seine Rezensentin – fragen, in welche der vier Kategorien die Liebe gehört, die das mich seit einiger Zeit am meisten berührende Gedicht beschreibt. (Vers zwei)
"Ich liebe Dich. Du liegst im Gartenstuhle,
und deine Hände schlafen weiss im Schoss.
Mein Leben ruht wie eine Silberspule
in ihrer Macht. Lös meinen Faden los."
(Rilke an Lou – geschrieben übrigens in Wolfratshausen)
Lässt sich derartiges denn wirklich kategorisieren.
Man bedenke,welch unterschiedlichste Auffassung es zu allen Zeiten über die Liebe gibt.
Zwischen dem Zyniker St. und dem aus eben empfundenem Gefühl Schreibenden (R.) liegen nicht nur 100 Jahre,sondern diese Diskrepanz liegt wohl in uns allen.

19.12.2007 / 13:51

Kommentar #5 von Rudi K. Sander:

Dieser schöne weibliche Gedanke gefällt mir: Die Diskrepanz liegt wohl in uns allen. Ja, liegt sie gewiss, es scheint mir zu sein die polare Differenz zwischen dem engelsgleichen an Möglichkeiten, die ohne Zweifel dem Menschen gegeben sind, und den unentrinnbaren Verhaftetsein an die Animalität. Wer diesen Spagat nicht locker schafft, der ist wohl verloren. In Sigrid Damms Buch über Schiller, den Mediziner Friedrich Schiller, der er ja auch war, fand ich den entlarvenden Hinweis: Friedrich Schiller, unser Klassiker und Miterfinder des Deutschen Idealismus, er war fest überzeugt von der geradezu ontologisch fixierten Verbindung zwischen unserem geistigen Oberstübschen, der kreativen Intellektualität, und den scheinbar chaotischen Rumoren da tief unten in uns drin; Thomas Mann nannte das in seinen Tagebüchern (sogar noch kurz vor seinem achtzigsten Geburtstage: "Heute Nacht haben sie die Hunde im Keller wieder gemeldet". Ihm waren diese seine Hunde wohl unangenehm, dem friedrich Schiller nicht, der hatte sich mit ihnen arrangiert und hatte ihr Bellen akzeptiert und angenommen, hatte es sozusagen veredelt durch die Konnexion zu seinen höchsten geistigen Fähigkeiten. So sollten wir diese Fakten am besten auch ansehen.

25.12.2007 / 17:59