11.11.2007 / 22:48 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Ichheit (80-89)


Das soll nicht wieder passieren.
Was bin ich? – Ein Mensch, sagt man so landläufig. 78 kg speziell angeordneter Eiweissschleim, präzisieren Naturwissenschaftler. Eine res cogitans, ein denkendes Ding, sagt Descartes. Mehr kann man jetzt auch nicht sagen, ob der Eiweissschleim existiert, ist noch nicht bewiesen an dieser Stelle der Meditationen. Bis jetzt weiss ich nur gewiss, dass ich existiere und denke. Selbst wenn ich mich in allem täusche und irre, dann muss es wenigstens denjenigen geben, der sich da täuscht und irrt. Aus meiner 1.-Person-Perspektive ist es also absolut wahr, dass ich existiere, egal für wie lange das jetzt wahr ist. Allerdings ist mir mit dem reinen Wissen um schiere Existenz nicht weitergeholfen. Die Aussage "da existiert was" sagt mir gar nichts. Was existiert denn da?

Was da existiert, im "cogito ergo sum", das ist also eine res cogitans. Mit res cogitans meint Descartes Geist. Und Seele. Und Verstand. Und Vernunft. Jetzt schmeisst er alles in einen Topf. Gestehen wir ihm erst einmal zu, dass das alles dasselbe bedeutet. Zunächst eine andere Frage: Stimmt das überhaupt, dass mein Ich eine res cogitans ist? Über die ganze Nummer mit dem universalen Zweifel kam ich bis zu dem Punkt, dass ich sicher existiere. Aber ich bin ein Individuum. "Res cogitans" ist jedoch eine allgemeine Klassifizierung. Das ist ein Allgemeinbegriff, der für eine allgemeine Klasse steht. Ich bin aber keine allgemeine Klasse. Ich bin Ruben Schneider. Niemand anderer ist ich. Wenn ich = res cogitans und andere Leute auch res cogitans sind, dann sind andere Leute ich. Stimmt ja auch: Kathrin Passig ist ein Ich, Aleks Scholz ist ein Ich, Kai Schreiber ist ein Ich, etc. Aber diese Leute sind nicht ich, sie sind nicht Ruben Schneider. Wie geht das zusammen?

Das Paradoxe ist: Wir alle sind genau in dem das Gleiche, in dem wir radikal verschieden sind: Im Ich. "Ich" besagt Individualität. Aber Individualität ist das, was wir alle gemeinsam haben. Jeder ist ein Individuum. Also sind wir in dem, in dem wir Individuum sind, nicht individuell.1 Das ist jetzt der Sprung, der hier im Descartestext passiert: Vom individuellen Ich zum allgemeinen Ich. Das allgemeine Ich kann man in Begriffe packen.2 Johann Gottlieb Fichte wird dazu später das tolle Wort "Ichheit" erfinden. In der klassischen Scholastik nannte man das Geist oder Vernunft. Das ist etwas Individuelles und Überindividuelles zugleich. Geist, Denken, Vernunft, das ist etwas, was jeder privat in sich hat, was aber dennoch etwas Öffentliches ist. Andernfalls könnten wir überhaupt nicht kommunizieren und jeder würde in seinem Kopf von anderen Köpfen radikal verschiedene Gedanken haben, die nicht mitteilbar sind, weil sie der andere nie verstehen wird. – Haben Sie verstanden?

1Für Fachchinesen: Dasselbe, was wesentlich Individualität konstituiert, konstituiert wesentlich Nichtindividualität. Im Ich bin ich numerisch verschieden von anderen Ichs und qualitativ identisch mit ihnen. Dasselbe Ich ist einmal token, einmal type.

2Das individuelle Ich kann man nicht in Begriffe packen. Ein Individuum ist keine blosse Ansammlung allgemeiner Merkmale. Versuchen Sie also mal, Ihr Ich ohne allgemeine Worte zu beschreiben. Sie können es dann höchstens mit Ihrem Eigennamen benennen. Man stelle sich vor, es gäbe nur Eigennamen. Dann könnte man gar nichts mehr beschreiben. Dann gäbe es nur solch unverschämte Sätze wie "Ruben Schneider ist ein Aleks Scholz". Jede Beschreibung (also kein blosses Hindeuten oder Aussprechen eines Eigennamens), geschieht durch allgemeine Ausdrücke, d.h. sowas wie "X hat blaue Augen, ist blau im Gesicht, ist 1979 geboren,...". Doch durch bloss allgemeine Ausdrücke trifft man das Individuelle auch nicht. Das Individuelle erschöpft sich nicht in einer reinen Kombination von Allgemeinheiten. Die Scholastik sagte deshalb: Individuum est ineffabile, das Individuum ist unaussprechbar, d.h. nicht allgemein und daher insbesondere nicht wissenschaftlich beschreibbar, es lässt sich nicht auf eine Formel bringen.

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