05.11.2007 / 22:30 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Aus Süddeutschland (32-37)

Es gibt Tage, an denen sich im Laufe der Stunde eine einzelne Information entfaltet, an anderen Tagen passiert sogar gar nichts. Aber dann gibt es welche, an denen erfährt man viele unterschiedliche Dinge. Man erfährt vielleicht, dass der eigene Vater im Sterben liegt, einen Kontinent weit weg, oder dass der aus dem Haus geklagte alkoholkranke Nachbar beim Raustragen der Möbel Schabeneier und Bettwanzen in den Hausflur purzeln liess. Man erfährt vielleicht auch, aus einem Buch, dass vor hundertfünfzig Jahren Menschen aus Bayern weg wollten, weil man ihnen dort das Leben schwer machte, ihres Namens und ihrer Religion wegen. Also gingen diese Menschen nach Amerika, in der Hoffnung auf zivilisierteres Verhalten. Vetter und Base fanden einander, weichgezeichnet vermutlich, und fanden einander anziehend, zeugten Kinder, pflanzten Bäume, trieben Gewerbe und verzehrten Nahrungsmittel. Dann starben sie, ihre Kinder wiederholten den Kreislauf, und das Kind der Tochter dann ist Robert Moses, der nun auch schon seit 1981 tot ist. Gelebte Leben häufen sich zu einem kleinen Stapel um mich her. Das Buch würde mich interessieren, so hatte ich mir das ausgerechnet, weil ich, neu nach New York gekommen, seinen Text über die Architektur und Geographie legen könnte, und einen Klassenkonflikt darunter. Die Gegenstände der Postkartenbücher, die Symbole des Molochs Gotham, sollten sich kondensieren in eine Person, der ich dann von der belagerten Eizelle zum Verfall ihrer politischen Macht folgen könnte. Politische und soziale Stadtgeschichte als Seifenoper. Stattdessen verdichtet sich beim Lesen dieser Vorgeschichte hier aber nur ein Gefühl staubiger Vergangenheiten. Diese Menschen, die vor dem Judenhass ein Weltmeer weit weg flohen, und so auf merkwürdige Weise die Grundlage für New Yorks heutige Gestalt schufen und für die Vertreibung Hunderttausender aus ihrem Wohnraum, spüren lange schon nichts mehr, keinen Schmerz und keine Freude, und ich habe ihnen nichts zu sagen. Warum also soll ich von ihnen lesen, und nicht stattdessen von denen, die heute ihre Wohnungen verlassen müssen, oder ihr Leben?

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Kai Schreiber / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Zustimmer:

Ja, die von heute sind wichtiger, nicht nur die potentiellen Opfer (der SPIEGEL hat gerade gemeldet, wenige Prozent unserer Bevölkerung in diesem Lande vorgeblicher Gerechtigkeit verfügen über mehr als Zwei Drittel aller finanziellen Ressourcen, das Gross der Menschen hat keinen müden Euro zuviel), sondern die wohlmeinenden neuen Täter: Man müsste einfach regelmässig wissen, mit wem solche machtverwaltenden Typen wie unser Innenminister täglich frühstücken und dinieren und auf wessen Kosten (ich denke da an den unseligen Strauss und seine noch unseligere Entourage).

07.11.2007 / 16:32