10.07.2011 / 22:46 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2011

Die Geschwister-Nummer


Geschwister
Ich hatte mir in diesem Jahr fest vorgenommen, für die Veranstaltung in Klagenfurt und die von mir zu kommentierende Anne Richter mehr Zeit aufzuwenden als im vergangenen Jahr für Iris Schmidt. Donnerstag und Freitag fielen jedoch wieder wegen Büro aus, das war vorhersehbar gewesen und einkalkuliert. Am Samstag dagegen sass ich früh vor dem Fernseher, den fälligen Teilwasserwechsel hatte ich extra bereits in der Vorwoche besorgt, und hatte 3SAT eingeschaltet; die Kinder haben jetzt einen eigenen Fernseher und die Konfliktsituationen sich folgerichtig deutlich reduziert. Ich schalte übrigens öfters am Wochenende 3SAT ein, von 7.30 Uhr bis 9.00 Uhr läuft dort das Alpenpanorama, wo man bei unaufdringlicher bayrischer Volksmusik die zahlreichen Web- und Panoramakameras der alpinen Urlaubsorte und der südeuropäischen Grossstädte verfolgen kann, das ist ungeheuer entspannend. Heute (Sonntag) morgen konnte man mehrere Minuten das Schicksal einer Budapester Spinne verfolgen, die sich vor dem Objektiv ihr Netz gesponnen hatte, während im Hintergrund die ungarische Hauptstadt in Zeitlupe an einem vorbeizog. Zurück zum Samstag: Zwischen dem Ende des Alpenpanoramas und dem Beginn der Übertragung aus Klagenfurt zappte ich in eine alte Folge "Disco 1980" mit Ilja Richter auf ZDF Kultur und musste bei "Der Teufel und der junge Mann" von Paola gleich zum ersten Mal an diesem Tag vor Rührung weinen.

Anne Richter hatte Glück, dass am Samstag keine Bergankunft im Terminplan der Tour de France stand, sondern nur eine Flachetappe von Aigurande nach Super-Besse, weil ich mir ihren Vortrag sonst gar nicht hätte anhören können, wenn Eurosport ganztägig übertragen hätte. Samstag ging es ins Zentralmassiv, auf dem "welligen Terrain" würde es, so hatte radsport-seite.de gemeldet, aber das ist dem fachkundigen langjährigen Tourzuschauer, der sich auch von der öffentlich-rechtlichen Dopinghysterie seine Freude nicht hat vermiesen lassen, eigentlich sowieso klar, zu einem "ersten ernsthaften Abtasten zwischen den Klassementfahrern" kommen, wobei um den Etappensieg die "auf die Hügelklassiker spezialisierten Fahrer ein Wörtchen mitreden" würden, entweder "im Bergaufsprint oder sogar schon vorher mit einer Ausreissergruppe". Ein Ausreisser gewann schliesslich, ein einziger kam durch vor dem grossen Feld. Das Ganze würde sich jetzt wunderbar als Allegorie auf den diesjährigen Bachmannwettbewerb umdeuten und interpretieren lassen, aber ich habe wie erwähnt Donnerstag und Freitag gar nicht geschaut und also die diesjährigen Hügelklassikerspezialisten und Klassementfahrer gar nicht identifizieren können, selbst wenn ich gewollt hätte.

Namenstechnisch war ich aus der Zulosung der Termine wieder als Verlierer hervorgegangen, wie im Vorjahr mit Iris Schmidt, fast alle anderen Namen schöner: Lautmalerisch und an die unendliche Geschichte gemahnend Steinbeis, ebenfalls onomatopoietisch Prassler, da denkt man an ein heftiges Gewitter oder die Füsse unter der Decke am Kaminfeuer, einen Single Malt in der Hand, Haderlap, herrlich, Assoziation zum tautologischen Haderlump, Rabinowich, da kenne ich sogar ihren Bruder Tex aus dem Internet, Bussmann, da kommt die Silbermedaille von Frank Busemann bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta ins Gedächtnis, als der spätere Sieger Dan O'Brien nach dem ersten Tag rumlief und fragte, Who the fuck is Busemann, und Frank Busemann dachte, O'Brien sei auf der Suche nach dem Busfahrer, Popp, spielte bis gestern bei der Frauen-WM, Reichlin, das klingt nach Landadel mit Herrenhaus in den Ostgebieten, Jürgen Klupp und Roland Wisser, beides Klassenschläger damals in der Grundschule, sehr unschöne Assoziationen hier, Baum, da hatte ich mir schon ein schönes Wortspiel mit ihrem Geburtsort Borken zurechtgelegt, wenn sie mir zugelost worden wäre, allein Randt ähnlich unspektakulär wie Richter.

Anne Richter stand also als zu beurteilender Monolith vor mir, keinerlei Massstäbe hatte ich zur Hand, die guten Gewissens anzulegen gewesen wären, abgesehen von Iris Schmidt, die ich mir letztes Jahr mehr oder weniger gezwungenermassen angeschaut hatte. Anne Richter – Ayers Rock, das waren auch die gleichen Initialen, das konnte kein Zufall sein. Als Anne Richter ihren Vortrag begann, sass ich mit Kladde und Stift bereit, mir Notizen zu machen. Nach wenigen Minuten kam es leider zu mehreren aufeinanderfolgenden Störungen, die der Konzentration abträglich waren: Zunächst klingelte der DHL-Bote mit einem Paket von Amazon, in dem der Xoomy Profi-Comic-Zeichentisch geliefert wurde, den ich im Auftrag der Kinder vor drei Tagen bestellt hatte, kurze Zeit später der reguläre Zusteller mit einem Umschlag, der wegen Übergrösse nicht in den Briefkastenschlitz passte, darin endlich die lang erwarteten kostenlosen Werbelautsprecher von Pringles, die man direkt auf eine leere Pringlesdose aufsetzen kann und diese damit als Resonanzkörper verwenden, wenn man vorher drei Deckel dafür einschickt. Kurze Zeit später gab es Ärger von den Kindern, beim Xoomy Zeichentisch waren nicht wie versprochen 60 verschiedene Motivvorlagen beigelegt, sondern nur drei, die sich je zwanzig Mal wiederholten. Es muss also reklamiert werden. Immerhin weisen die paar Notizfetzen, die mir trotzdem gelangen, einen halbwegs akzeptablen Deckungsgrad auf zu dem, was die Juroren, von denen dieser Spinnen der mit weitem Abstand unerträglichste Schmierlappen ist (professoraler Habitus at its best, dabei ist er nicht mal einer), im Anschluss so zu kommentieren hatten: Mit Ausnahmen ganz gut gemacht, die Verknüpfungspunkte fehlen manchmal, teilweise unverständliche Abschweifungen, die Dialoge ein wenig zu plakativ, Bedeutung der Motive bleibt unklar, das Ganze sehr brav, man verliert mittendrin die Lust, den Schluss unbedingt hören zu wollen, bzw. nach dem Ende die Teile, die man wegen der Postboten und der fehlenden Xoomy Motivvorlagen verpasst hat, im Netz nochmal nachzulesen.

Direkt im Anschluss an die Übertragung fuhr ich, Duplizität der Ereignisse, auch in diesem Jahr wieder Fische kaufen, dieses Mal aber keine zum Essen, sondern einen Schwarm Rote Neon fürs Aquarium.


27.06.2010 / 00:42 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010

Iris Schmidt, "Schnee"


Foto: badkleinkirchheim, Quelle
Während alle auf die Autorin warteten, die gleich beginnen würde, ihren Text vorzulesen, beobachtete ich die ganze Szenerie von jenem Fernsehsessel aus, in dem ich seit vielen Jahren beinahe täglich sass und dachte, dass es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Textbesprechung in der Lesemaschine zuzusagen. Da fahren die ganzen Digitale-Bohème-Penner, die du nur aus dem Internet kennst, wie jedes Jahr wieder nach Klagenfurt und machen sich ein paar schöne Tage, und du blöde Sau sitzt in deinem Büro am Donnerstag und am Freitag und kannst dir das nicht mal als Livestream oder auf dem Fernseher anschauen, Freitag hast du zwar früh aus, aber Aleks Scholz liest schon um 12.00 Uhr, das ist nicht zu schaffen, der Nachmittag dagegen theoretisch schon, aber dann läuft ja auch WM, die interessiert dich viel mehr als der ganze Literaturquatsch. Der interessiert dich zwar auch, aber jetzt nicht so sehr, dass du dir zwei Tage Urlaub nehmen würdest, um das anschauen zu können, wie du es jedes Jahr bei den Bergetappen der Tour de France tust, die auch immer ganztags übertragen werden bzw. eigentlich wurden, man muss hier ja die Vergangenheitsform verwenden, seit die total verkommenen Öffentlich-Rechtlichen ihr Gutmenschentum entdeckt haben und glauben pflegen zu müssen, dachte ich auf meinem Fernsehsessel.
Leichtfertig zugesagt hatte ich das vor einigen Wochen schon, die Besprechung eines Textes zu übernehmen, und dann die plötzliche Erkenntnis, WEDER Fussball NOCH den Literaturkram gucken wird es am Freitag nachmittag werden, nein, da ist ja noch das Schulfest von den Kindern, und du hast dich eingetragen zum Getränkeverkauf, weil du scheel angesehen wirst, wenn du dich nicht einträgst in die Listen, können die einen nicht wenigstens eingangs des Wochenendes in Ruhe lassen, wem nutzt so ein Schulfest, für die Eltern ist es eine Plage, dachte ich auf dem Fernsehsessel, die Kinder haben auch nichts davon, sehen sich ja die ganze Woche, ausserdem ist es ihnen eh viel zu warm und am Ende taumeln sie mit Sonnenstich über den Pausenhof, eine Unverschämtheit und Zumutung für alle Beteiligten, Ausfluss längst überkommener Konventionen, im Grunde genommen vergleichbar dieser lächerlichen Veranstaltung in Klagenfurt. Macht der "Kastenbrotkopf" (Tex Rubinowitz) eigentlich heuer auch die Moderation, hatte ich überlegt. Keine Chance, das herauszufinden bis Samstagmorgen, keine Sekunde von dieser Talentezertrümmerungsveranstaltung wirst du gesehen haben bis Samstagmorgen.
Samstag, der Tag, an dem du dich normalerweise langmachen kannst, "Brötchen mit Kaffee und bei Musik die Zeitung lesen" (Truck Stop), dann irgendeine sinnentleerte manuelle Tätigkeit zum Runterkommen und Rauskommen aus der Werktagsmühle, die Küchenkräuter auf dem Balkon hätten schon lange gepflanzt sein wollen, auch ein Teilwasserwechsel im Aquarium stünde an, aber du Narr musst dich dazu eintragen, einen Klagenfurttext zu besprechen in der Lesemaschine, und die verdammte calvinistische Arbeitsethik hindert dich daran, darauf zu scheissen und stattdessen die besagten Verrichtungen zu tätigen oder dich sogar einfach in der Buga an den See zu legen bei dem grossartigen Wetter, obwohl es natürlich eigentlich auch schon wieder zu heiss ist und die verdammte Sonne zu stechend, braun bist du ja auch noch nie geworden, sondern hast immer zuverlässig, jedes Jahr aufs Neue, erstmal einen fetten Sonnenbrand gekriegt, besonders früher im Freibad, Hautkrebs soll das ja zwangsläufig auslösen im Alter, dachte ich auf meinem Fernsehsessel.
Und dann hatte ich mich überhaupt nur eingetragen in dem Irrglauben, die Texte würden vorab veröffentlicht und ich könnte meine Rezension auf Halde verfassen, dachte ich auf meinem Fernsehsessel, nur um später beiläufig zu erfahren, dass dies nicht der Fall sei und die Aussicht, im Vorgriff sich schon etwas überlegen zu können, damit entfiele. Also wenigstens vorab etwas zum Autor recherchieren und das gefilmte Autorenporträt in den Dreck ziehen könntest du ja, hatte ich überlegt, und dann wird auf den von mir reservierten Termin eine Iris Schmidt gelegt, die ausgerechnet auf ihren Autorenporträtfilm verzichtet hat. Und den Versuch, eine Iris Schmidt zu googeln, konntest du auch gerade in die Tonne kloppen, dachte ich auf meinem Fernsehsessel, geht es denn noch gemeiner, Karl Müller oder Petra Maier vielleicht. Bei Amazon nicht anders, Iris Schmidt: "Händedesinfektion im Gesundheitswesen", das wird nicht von ihr sein, ebenso der "Praxisratgeber Saluki", ein Sachbuch über Windhunde. Obwohl, Windhunde, hihi, da kann sie sich mit Aleks Scholz highfiven, der sich in seinem Autorenportät in Dublin vor eine Hunderennbahn gestellt und allen Ernstes davon schwadroniert hat, dass es auf den Schwanz nicht ankommt, oder so ähnlich.
In der Strassenbahn hatte nach langer Zeit der Ruhe ausgerechnet gestern wieder einmal für die vollen zwanzig Minuten Fahrt der Alte neben mir gesessen, der unablässig auf sein Gebiss einknistert, Jörg Berger ist gestorben und die Tage werden auch schon wieder kürzer, ein halbes Jahr lang, und du sollst hier eine Textbesprechung fabrizieren, dachte ich auf meinem Fernsehsessel. Warum schreibst du, um diese verheerende Dummheit der Zusage auszubügeln, nicht einfach in den Internbereich der Lesemaschine, dass du den Termin verwechselt hast und dich jetzt leider mit einer Migräne ins Bett legen musst, dachte ich auf dem Fernsehsessel. Der bereits vor Tagen gesichtete Lebenslauf neben dem fehlenden Autorenfilm hatte mich ja positiv eingenommen für Iris Schmidt, dachte ich auf dem Fernsehsessel, nach all den Leichenwäschern, Krankenhausclowns; Totengräbern und Astronomen mal jemand mit einer soliden Ausbildung als Industriekauffrau, dann Wechsel in die Gemeinwesenarbeit in einem sozialen Brennpunkt, wenngleich der Eindruck durch die "Judotrainerin (1. Dan)" wieder leicht getrübt worden war. Und dann sass ich um Punkt Elf in meinem Fernsehsessel an jenem Samstagvormittag und hatte auf 3Sat gezappt, Punkt Elf, aber auch keine Minute früher, die Geschirrspülmaschine war noch einzuräumen gewesen. Eingekauft für den Samstagabend hatte ich auch noch nicht, ein lieber Gast kommt zum Kochen, Salzmanteldorade soll es geben und als Nachtisch Mohr im Hemd, und ob es am Samstagnachmittag noch halbwegs akzeptable Doraden zu kaufen geben würde, wagte ich doch, hier auf meinem Fernsehsessel sitzend, stark zu bezweifeln.
Begrüssung durch eine Frau, aha, da haben sie den Kastenbrotkopf also abgesägt, und Nüchtern sieht auch anders aus und heisst anders, dachte ich auf meinem Fernsehsessel. Iris Schmidt dagegen sieht aus wie Gabriele Wohmann, hat sich von Kathrin Passig ein T-Shirt geliehen nebst im Schnee verirrtem Geschichtenpersonal und liest eine Gruselgeschichte. The shining goes Mittelgebirge, Nagetiere treten auf, am Ende frage ich mich wie der eine Juror, warum die beiden nicht ins Auto von Karl Müller eingestiegen sind. Vergleichsmöglichkeiten zu den übrigen gelesenen Texten fehlen mir, die komplette Zernichtung (Sascha Lobo) der Iris Schmidt durch die Jury kommt deshalb unvorbereitet, und plötzlich weiss ich, warum ich mir das nicht anschauen konnte und kann, eine einzige Erregung über diese affektierte Jury, gleich ob sie recht hat oder nicht, kommt in mir hoch, nichts ist mir widerwärtiger als diese arroganten Laffen, diese armen Gestalten in ihren Jackets, die sich selbst so gerne produzieren und reden hören, allein schon der Habitus hatte mir ja Übelkeit verursacht, obwohl vielleicht schlicht dahintersteht, dass sie gestern abend gesoffen haben und jetzt früher in die Pause wollen. Iris wird jedenfalls keinen Preis gewinnen, soviel ist sicher, o.k., vielleicht drückt sie als Rache für die Demütigung Spinnen ("Gladbachfan") draussen eine rein, die gut bemuskelten Oberarme dazu hatte sie (Judolehrerin, 1. Dan) ja augenscheinlich, dachte ich auf meinem Fernsehsessel.
Das Ding ist früher zu Ende als geplant, ich muss die Kinder vom Sofa scheuchen, wo sie sich schon wieder eingerichtet und aufs Kinderprogramm gezappt haben, raus auf den Hof Waveboardfahren, bewegt euch, damit ihr nicht zu kleinen Fleischanderln werdet, ich selbst hacke nur schnell die Besprechung ins Notebook und dann nichts wie raus aus dem Fernsehsessel, sofort, denke ich, in die Innenstadt fahren und die übriggebliebenen Restdoraden besorgen für das Abendessen, gleich und sofort und gleich und gleich, bevor es zu spät ist.

7 von 14 Autoren


11.03.2008 / 10:53 / Mehrere lesen: Verschiedenes (von manchen)

Sternstunden der Bedeutungslosigkeit – Sex, Musik und Prügeleien (32-60)


Entwurf Kollhoff SS06, ETH Zürich: Schöön, aber nicht sooo schöön. Quelle
Mein Freund Friedrich hat, bevor er sich wieder auf den elterlichen Hof zurückzog und eine Pferdepension eröffnete, erfolgreich Architektur in Mainz studiert. Anschaulich wusste er von den Projektpräsentationen beim japanischen Professor zu berichten, der zwar eine Kapazität auf seinem Gebiet darstellte, aber des Deutschen nur rudimentär mächtig war: Bei diesen Präsentationen gab es nämlich als höchste Auszeichnung ein "Schöön" zu ernten. Hatte der Mentor allerdings kleine Vorbehalte, setzte er ein ebenso nettes Lächeln wie beim "Schöön" auf, kommentierte den Entwurf jedoch mit einem "Schöön, aber nicht sooo schöön".

Diese Anekdote kam mir in den Sinn, als ich am Samstag nach gut drei Jahren "Fleisch ist mein Gemüse" von Heinz Strunk zum zweiten Mal am Stück weglas, weil ich das Buch verschenken wollte und durch den Kauf inspiriert wurde, auch in mein Exemplar mal wieder reinzuschauen. Stellt man Strunk direkt neben Schamoni, gute Kumpel übrigens die beiden, ist Strunk "Schöön", Schamoni "Schöön, aber nicht sooo schöön". Ansonsten sind die Bücher sich sehr ähnlich, zwei Innenansichten aus der "Warteschleife des Lebens" (Schamoni), ironische Brechung der Ereignisse aus der retrospektiven Perspektive desjenigen, der es geschafft hat, diesen Welten gerade noch so zu entkommen, hochkomische Momente, jedoch warten die nur mit Psychopharmaka zu behandelnden Depressionen schon hinter der nächsten Strassenecke.

Auch Abschnitt Zwei der "Sternstunden" ist schnell zusammengefasst, was aber nicht verwundert, da zentraler Inhalt des Buches ja das Abhängen des Protagonisten ist: Michael Sonntag liest sehr viele Bücher aus der Bibliothek, schaut sehr viele Filme aus der Videothek, führt sehr viele Listen über sehr viele Dinge. Sein Mitbewohner Bruno bringt eines Tages eine Freundin mit, die ebenfalls einzieht. Zumindest einmal hat die Masche trotz Brunos (der andere: Klang) Bedenken also doch gezogen (Selbstverständlich ist das mit den 10% Quatsch, korrekt sind vielmehr 7%, wie ich seit der Sieben von Steffen aus meiner Klasse weiss). Um die unbekannte Schöne von gegenüber kennenzulernen, hängt er einen Zettel ins Fenster, doch der Versuch der Kommunikationsaufnahme scheitert zunächst. Am Ende wieder Alkohol, Absturz, Erwachen im fremden Bett und ein Nachhauseweg in Frauenkleidern, da die eigenen Klamotten verschwunden sind.

Schöön die folgende Selbstreflexion, ihre unmittelbare Dekonstruktion und eine sich trotzig anschliessende zusätzliche halbe Drehung an der Ironieschraube, Postpostirgendwas 2007:

"Weit draussen im All, in einem Saturnring um den Planeten der Normalen herum, schweben wir Überflüssigen kreiselnd in der Kälte wie einsame, traurige Satelliten aus Fleisch, haben nichts zu tun, kriegen kaum Licht ab und treffen auf niemand anderen als auf uns. Pathetische Selbstmitleidsfantasien. Aber ist doch so."


27.02.2008 / 08:50 / Mehrere lesen: Verschiedenes (von manchen)

Sternstunden der Bedeutungslosigkeit – Der Fürst der Überflüssigen (1-31)


Die unpunkige Art, einen Fisch zu essen
Der Plot der ersten dreissig Seiten ist schnell erzählt: Der Protagonist namens Michael Sonntag sitzt beim Arzt, hat Nachdurst und trinkt das Aquarium im Wartezimmer aus. Dabei verschluckt er einen Fisch, mit dem er fortan Selbstgespräche führt. Er lebt in Hamburg in einer verdreckten Wohnung, die er nie abschliesst, mit seinem Mitbewohner Bruno, der ihm bei Schiessübungen in einem Bunker zugelaufen ist. Seine Jugendfreundin hat sich gerade von ihm getrennt, auf einer Warmhalteplatte hält er den letzten Kaffee, den sie beim Abschied stehen liess, schon seit Wochen warm. Er nennt ihn den "Kaffee der Liebe". Michael Sonntag studiert eigentlich Kunst, ist aber schon länger nicht an die Hochschule gegangen und hängt nur ab. Gelegentlich schaut er seiner Nachbarin von gegenüber, der schönsten Frau der Welt, ins Fenster oder findet Konsolation vor dem Fernseher. Seine Lieblingssendung ist "Geh aufs Ganze" mit Jörg Draeger und dem Zonk. Geld für die Einkäufe bei Lidl verdient er sich, indem er nachts Plakate für einen gewissen Maff klebt, das meiste vertrinkt er gleich im Anschluss ans Kleben in einer Kneipe mit dem schönen Namen "Nasenbär". Freiheit also, mit allen positiven wie negativen Aspekten.

Rocko Schamoni hat seinen Roman letzten Dezember in der Sendung "Zimmer frei" vorgestellt. Er verrät dort, dass er darin sein Leben als Fünfundzwanzigjähriger verarbeitet hat. Etwa 30 % sind nach eigenem Bekunden autobiografisch, der Rest ist von anderen Leuten zusammengeklaut.

Im ersten Beitrag hatte ich erwähnt, dass ich mir mit Rocko das Geburtsjahr teile und sich unsere Wege bereits Mitte der Achtziger erstmals kreuzten. Es liegt also nahe, mal zu überlegen, was ich 1992 mit 25 so getrieben habe. Da überwiegen zunächst die Parallelen. Verdreckte Wohnung, ein Studium, zu dem ich länger nicht hingehe, ich sehe auch viel fern, durchaus auch Jörg Draeger und den Zonk, werde auch aus der Bahn geworfen, allerdings nicht, weil meine Freundin mich verlässt, sondern wegen der verpassten Meisterschaft im Mai 1992 in Rostock: Noch Wochen nach dem Schlusspfiff von Alfons Berg sitze ich apathisch auf dem Sofa, nicht fähig, mich zu bewegen. Aber es gibt auch noch andere Unterschiede. Ich trinke Tee, keinen Kaffee, gegenüber gibt es keine unbekannte Schöne, der man in die Wohnung gucken könnte, sondern nur ein Altersheim mit alten Frauen; und der wohl gewichtigste: ich wohne in Mar- und nicht in Hamburg.

Volker Jahr / Dauerhafter Link


21.02.2008 / 13:15 / Mehrere lesen: Verschiedenes (von manchen)

Sternstunden der Bedeutungslosigkeit

Es mag gut und gerne ein Vierteljahrhundert her sein, vielleicht ein, zwei Jahre weniger, dass ich King Rocko Schamoni zum ersten Mal sah. Irgendwann Mitte der Achtziger, in der Frankfurter "Batschkapp", als Ein-Mann-Vorgruppe des ersten Goldenen Zitronen-Konzerts, das ich besuchte. Rocko betrat die Bühne, auf dem Kopf einen Sombrero, in der Hand eine Wandergitarre, und sang zwei Lieder: "Hallo, ich bin Rocko Schamoni" (Hallo, ich bin Rocko Schamoni, hallo, die Sonne, sie scheint, hallo, ich bin Rocko Schamoni, und wo ich bin ist überall Sonnenschein) sowie "Johnny ritt in die Ferne", ein im Countrystil gehaltener Kracher über eine enttäuschte Männerfreundschaft (Wir ritten durch die Wüste, die Sonne brannte heiss, im Lande der Komantschen ist's gefährlich wie man weiss. Zwanzigtausend Dollar und die Taschen voller Gold hatten wir uns eben aus der Bank von Dodge geholt). Der namenlose Protagonist, dessen Pferd schlapp macht, schickt seinen Freund Johnny zum Hilfeholen weg und wird vom Sheriff und seinen Leuten umkreist (Ich kämpfte wie ein Löwe, doch sie setzten mich auf Eis). Man verhaftet ihn und als er auf den Galgen geführt wird, erblickt er in der Menge einen kalt lächelnden Johnny "mit zwei Mädchen an der Hand". Die Zitronen luden am Ende des Konzerts die anwesenden Fans zum gemeinsamen Kiffen auf die Bühne ein, aber ich ging nicht hin und konnte so auch keine Worte mit Rocko wechseln. Ich war fasziniert, hier schlug das Herz des Punk als offenes Buch direkt vor mir, aber die kleinbürgerlichen Konventionen in mir waren einfach zu stark. Trotzdem war ich von dieser Sekunde an am Haken und verfolgte aufmerksam den weiteren Lebensweg des im gleichen Jahr wie ich geborenen Rocko.

Vielleicht, es ist schon so lange her, verwechsle ich aber auch gerade etwas und es war gar nicht das erste, sondern das zweite Goldene Zitronen-Konzert, denn irgendwann war auch Norbert Hähnel mal Vorgruppe, meine ich mich zu erinnern, der "wahre Heino", Besitzer des Scheissladens in der Grossbeerenstrasse in Kreuzberg und Stammgast in der auch von mir bei Berlinbesuchen sehr gern aufgesuchten Hornklause in der Hornstrasse. Naja, eigentlich auch egal.

Während ich also die konventionelle Laufbahn einschlug und den langen Marsch durch die Institutionen antrat, machte soulbrother Rocko Musik, gründete in Hamburg den Golden Pudel Club, produzierte für 3sat die sehr schöne Reihe "Pudel Overnight", veranstaltete als Studio Braun gemeinsam mit Jacques Palminger und Heinz Strunk lustige Telefonscherze und fing irgendwann an zu schreiben. 2000 erschien das eher nicht so schöne "Risiko des Ruhms", 2004 das dafür umso grossartigere "Dorfpunks", in dem er von seiner Jugend als Dorfpunk in Schleswig-Holstein berichtet. "Sternstunden der Bedeutungslosigkeit" aus dem Jahr 2007 nun ist so eine Art Fortsetzungsroman, der Dorfpunk ist nach Hamburg gezogen und versucht, sich selbst und den Sinn des Lebens zu finden, wird aber immer wieder vom Alkohol und seinen Leuten umkreist. Von diesem Buch soll im Folgenden die Rede sein.


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