03.11.2007 / 03:13 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Gesteinsbestimmung im Gelände (38-39)

Im Dunkeln ins Büro fahren, im Dunklen zurückkommen. Im Winter kostet es keine grosse Mühe, den Tagesablauf so zu regulieren, dass man den Fahrraddynamo monatelang nicht anfassen muss. Man braucht nämlich gar nicht nach Murmansk zu ziehen, um dem hysterischen Wechsel von Tag und Nacht zu entgehen. Prokrastinationsbuchfortschritte in acht Stunden Büroaufenthalt: null. Natürlich waren andere, dringende Dinge zu tun, z.B. die Fahnenkorrekturen in einem Buch, das eigentlich im August hätte erscheinen sollen (nach einer Verschiebung von Januar auf August). Auch morgen werde ich keinesfalls arbeiten können, denn die zweite Hälfte der dritten Staffel von "The Wire" wartet, und immerhin dauert jede Folge eine ganze Stunde. In Neil Fiores The NOW Habit steht ausdrücklich drin, dass der mehr schafft, der mehr Freizeitvergnügungen nachgeht, also mache ich bisher alles richtig. Auch Sascha hat offenbar nichts am Buch getan, was ganz gut ist, denn so kann ich mich weiterhin tatkräftig und überlegen fühlen.

Das folgende Buch, Gesteinsbestimmung im Gelände, erwarb ich vor einiger Zeit, um damit einen alten Plan seiner Umsetzung näherzubringen: Ich hätte gern eine Zeitungskolumne oder einen vergleichbaren Job, bei dem man mich dafür bezahlt, die Natur in der Stadt zu preisen. Schlecht informierte Menschen loben immer die Natur da draussen auf dem Lande, dabei gibt es in der Stadt viel mehr von allem. Auf dem Land bekommt man zeitlebens nur Fichten, Buchen und ab und zu mal einen Ahorn zu sehen, in Berlin gibt es Schnurbäume (am U-Bahnhof Jannowitzbrücke, in der Rütlistrasse, im Volkspark Friedrichshain), einen Tulpenbaum einfach so in einem Garten (Nähe Gaudystrasse) und einen Drummond's Spitzahorn (TOTAL-Tankstelle Holzmarktstrasse). Auch über die Geologie des Strassenpflasters und der steinernen Tresenplatten in Stehimbissläden ist sicher einiges zu sagen, jedoch nur von jemandem, der auch was über Geologie weiss.

Gesteinsbestimmung im Gelände wird sich nicht mit Tresenplatten befassen, das wäre zu viel verlangt, aber irgendwo muss ein Anfang gemacht, eine Schneise ins Unwissen geschlagen werden. Zum Beispiel im Kapitel 3.2, "Wichtige gesteinsbildende Minerale einschliesslich Gesteinsglas", Abschnitt "Feldspäte". Wer hätte gedacht, dass der Plural von Feldspat Feldspäte ist? Mit noch herrlicheren Wörtern geht es gleich weiter: Gerüstsilikate, monokline und (seltener) trikline Symmetrie, tafeliger Habitus idiomorpher Gesteine, Anorthoklas und Plagioklas, metamorphe Gesteine, Labradorisieren. Gesteine haben also einen Reifegrad, eine schöne Vorstellung, wie die reifen Gesteine auf das unreife, erst wenige Milliarden Jahre alte Kindergestein herabsehen. Feldspäte haben eine Neigung zu Verzwillingung, was auch immer das sein mag, unten auf Seite 39 sind "verschiedene Feldspäte als Einsprenglinge in einem Porphyr" abgebildet, ich glaube, so was habe ich schon mal gesehen. Poliert, als Pizzeriatresen. Na-Ca-Feldspäte heissen Plagioklase, was man sich schon mal merken sollte, denn Plagioklase lassen sich "bei Korngrössen ab 1 mm" zuverlässig erkennen; es kommt dabei nur darauf an, die "mit der Lupe gewöhnlich gut erkennbare, streifig-lamellare polysynthetische Verzwillingung zu beachten bzw. gezielt zu suchen. Sie ähnelt bezüglich strenger Parallelität, Geradlinigkeit und wechselnder Lamellenbreite den Strichcodes auf Verkaufsverpackungen." Das ist doch schon mal ein Anfang. Gut, das waren jetzt erst zwei Seiten, aber erstens ist es bei einem Buch von 439 Seiten ja wohl egal, ob ich zwei Seiten lese oder zwanzig, und zweitens lese ich den Rest eben ein andermal.

Fundort: Ungelesene Bücher, eigene

Prokrastinationsbuch: 0 von 200 Seiten geschrieben.


02.11.2007 / 03:13 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Prokrastinationsprojekt


Haben Sie das alles gelesen? Noch nicht, aber bald.
Ich muss dringend ein Buch über Prokrastination schreiben, zusammen mit Sascha Lobo. Niemand ist qualifizierter als wir beide, Bücher über Prokrastination zu schreiben, ganze Bibliotheken könnten wir darüber vollschreiben, aber ach, man kommt ja zu nichts. Abgabetermin ist im Januar, daher musste unbedingt vorher noch schnell ein zeitraubendes neues Projekt gestartet werden: die Lesemaschine. So wird alle überschüssige Prokrastinationsenergie in dieses Gefäss abgeleitet, übrig bleibt reiner Arbeitswille. Die Hälfte eines Buchs vollschreiben, wie schwer kann das schon sein? Allerdings handelt es sich dabei um eine Abwandlung des Gefangenendilemmas, in dem beide geringe Haftstrafen bekommen, wenn niemand aussagt. Sagt einer aus, der andere aber nicht, kommt der eine frei und der andere muss lange einsitzen, sagen beide aus, wird es für beide ein langer Aufenthalt. Schreiben zwei Berufsprokrastinierer zusammen ein Buch, hofft natürlich jeder insgeheim, dass der andere die ganze Arbeit macht, während er selbst andere dringende Dinge erledigt, "The Wire" gucken zum Beispiel.

Oder alle Bücher der Welt lesen. Man kann es ja zumindest versuchen. In der Riesenmaschine wurde das alte Arno-Schmidt-Problem, dass man "im Leben nur 3000 Bücher zu lesen vermag" bereits erörtert und mit vielen guten Lösungsvorschlägen bedacht ("mit einem sehr grossen Tacker alle Bücher zu einem Buch zusammenheften" etc.). Natürlich ist Gründlichkeit hier fehl am Platz, ich werde daher das Prinzip des Riesenmaschine Drive-Thru-Literaturzirkels übernehmen und je zwanzig Seiten aus allen Büchern lesen. Nicht viel, aber immerhin mehr, als die meisten Menschen von den meisten Büchern gelesen haben. Gleich morgen fange ich an.

Prokrastinationsbuch: 0 von 200 Seiten geschrieben.


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