01.02.2009 / 16:51 / Ruben Schneider liest: Struktur und Sein (Lorenz B. Puntel)

Puntel reloaded (55-70)


Im Fiat Puntel auf dem Highway durch das noch nebulöse universe of discourse.
(Bild: Boby Dimitrov, Lizenz).
Was das vorzügliche, aber leicht harzige Werk Lorenz Puntels angeht, so habe ich jetzt einen Monat hier den Schlendrian raushängen lassen. Zu viele andere Dinge wollten gelesen werden. Zudem besitze ich jetzt ein Banjo1, und ich konnte vorher auch nicht wissen, dass dieses Instrument ungefähr soviel Aufmerksamkeit kostet wie eine Freundin oder aber ein Puntelbuch. Ich habe den Brocken in Zwischenzeit zwar einmal ganz durchgelesen, aber das nur mit wenig Konzentration und noch weniger Verstand.

Zudem habe ich auch noch jemand anderes gelesen, nämlich Hegel. Zumindest ein wenig in der Phänomenologie des Geistes und in Wissenschaft der Logik.2 Das ist in Bezug auf Puntel wirklich sehr interessant, denn irgendwie scheinen mir doch ziemlich viele Denkfiguren Hegels auch bei Puntel vorzukommen. Sowohl was das Kluft-Problem angeht als auch so Sachen wie die Kontextualität der Sprache und dass die Wirklichkeit kein isoliertes Ding hinter unserer Erfahrung ist, sondern einen riesigen kohärenten Zusammenhang bildet und dass die Wahrheit das Ganze ist.

Puntel ist natürlich modern und von hoher formaler Klarheit. Es wird insbesondere nicht einfach drauf los philosophiert und im Nebel herumspekuliert, sondern erstmal wird in 1.4 die Methode geklärt, nach der philosophiert werden soll. Allein da dampft mir aber schon das Hirn. – Puntel bringt vier notwendige Stufen zur Bildung einer (struktural-philosophischen) Theorie:

1. Aufbau und Inventivmethode: Es gibt irgendwelche Daten im universe of discourse (oder das universe of discourse selbst), und die werden gemäss der Kohärenzmethodologie in einer minimal geordneten Theorie als Theorienmaterial bereitgestellt.
2. Theoriekonstitutive Methode: Das Theorienmaterial aus 1. wird in eine strenge struktural-philosophische Theorie eingepflegt, d.h. die Ordnung der Daten wird umfassend expliziert (in einer kohärenzial-netzstrukturalen Theorieform mit evtl. axiomatischen Subtheorien).
3. Systemkonstitutive Methode: Die in 2. entstandenen einzelnen Theorien werden wieder kohärenzial in ein holistisches Ganzes eingebettet, ein Theoriennetzwerk als Struktur von Strukturen.
4. Prüfung der theoretischen Adäquatheit und des Wahrheitsstatus ("inference to the best systematization").

Dahinter steckt eben wieder der Grundgedanke des universalen Zusammenhangs von allem mit allem: Alle Entitäten involvieren sich gegenseitig. Ihre Relationen untereinander haben zyklischer Charakter, daher ist die Netzwerkform von Theorien angemessener, je umfassender die Theorie sein soll. Die Wahrheitsfrage wird dann an das Theoriennetz als Ganzes gestellt (S. 68f.), die Wahrheit einer einzelnen Aussage kann nur relativ zu einem ganzen Theorierahmen festgestellt werden: Die Wahrheit ist das Ganze.

Hegel lässt grüssen.

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1 Möchte irgendwer mit mir mal eine Bluegrass-Band gründen?

2 Ein schönes Reclam-Bändchen ist übrigens: Gerhard Gamm, "Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling", Stuttgart 1997.



Tolle Ausdrücke, die ich mir merken sollte: Theoretizität, Systematizität, Kohärenzmethodologie, holistisch-netzwerkstrukturale kohärenziale Methode, Explizitprädikat, kognitive Systematizität, "eine Möglichkeit explizit implizieren", subsystematische Ebene.
Dinge, die ich mir nie merken werde: Die vier Bedeutungen von "Axiom" (S. 63) und der Begriff des Modells in der informellen und formalen Hilbertschen Axiomatik im Unterschied zum Modell in informellen mengentheoretischen Axiomatik. Ächz.

70 von 687 Seiten

Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (3) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Hendrik:

Beruhigend, dass nicht nur ich die Lektüre des Werks von Puntel etwas mühsam und schwierig finde. Habe mir den blauen Ziegelstein vor drei Wochen ausgeliehen, zusammen mit zwei früheren Büchern Puntels, "Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie" und "Grundlagen einer Theorie der Wahrheit", in denen er eine systematische Kohärenztheorie der Wahrheit entwickelt. Und statt mit "Struktur und Sein" habe ich erst mal mit dem überschaubaren Bändchen der "Wahrheitstheorien" angefangen, wo ich allerdings im Abschnitt über Tarskis semantische Wahrheitstheorie stecken geblieben bin, weil ich dann wiederum erst mal Tarski selber lesen wollte. Leicht hat Puntel es sich jedenfalls auch selber nicht gemacht, und sympathisch erscheint mir diese Stelle im Vorwort von "Struktur und Sein": "ein solches Buch könne sich (...) nur als Resultat eines langen Reifungsprozesses legitimieren." Denn zunächst einmal musste ich an Vittorio Hösle denken, der ja auch versucht, einen objektiven Idealismus für unsere Zeit zu begründen, allerdings nicht im Durchgang durch die analytische Philosophie, sondern im Anschluss an Apels Transzendentalpragmatik. Hösles Programmschrift "Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie" schüchterte mich, als ich es ca. 1992, gegen Ende meines Grundstudiums las, gehörig ein, weil ich mir dachte, mein Gott, so viel Scharfsinn, Energie und 'Idealismus' im vorphilosophischen Sinne, doch was dabei heraus kommt, mit diesem eher an Fichte als an Hegel erinnernden Gestus, andere zum Verstehen zwingen zu wollen, ist trotzdem objektiv wahnsinnig.
Nicholas Rescher ist nach Puntels Aussage derjenige gewesen, der ihm geholfen hat, die "megalomane Idee eines absoluten Systems der Philosophie" zu überwinden. Und jetzt weiss ich auch, wo ich den Namen Puntel zuerst gelesen habe: In Reschers Reclam-Bändchen "Die Grenzen der Wissenschaft", das er übersetzt und eingeleitet hat, und das seit 15 Jahren ungelesen bei mir herumsteht.
Gelegentlich hat man echt mehr Lust auf eine Bluegrass-Band (ich könnte die Fiddle spielen), anderes zu tun natürlich sowieso auch, ABER: Philosophie ist schon auch wichtig. Sorry, viel Namedropping und Atmosphärisches, aber das muss auch mal sein, denn das sind ja Sachen, die einem durch den Kopf gehen, wenn man mit so etwas konfrontiert wird, wie es Puntel Anspruch darstellt.

03.02.2009 / 19:29

Kommentar #2 von Ruben:

Hallo Hendrik, danke für das Mitlesen! Hier soll auch rauskommen, was einem so durch den Kopf geht beim lesen. Nüchtern-sachliche Fachrezensionen kann man anderswo lesen.
Die Wahrheitstheorien von Puntel muss ich mir unbedingt auch durchlesen, im Buch (Kap. 3.3) ist das alles offenbar etwas knapp. Ich finde es da schon einen ziemlichen Hammer, wenn da behauptet wird, eine volldeterminierte wahre Proposition sei schlichtweg identisch mit einem Fakt in der Welt. Aber dazu kann ich meinen Senf dann an entsprechender Stelle ablassen (ich hoffe, ich komme da etwas zügig voran).

03.02.2009 / 20:26

Kommentar #3 von Alan White:

Und so bald Sie mit STRUKTUR UND SEIN fertig sind, könnten Sie mit SEIN UND GOTT (Mohr Siebeck, 2010) beschäftigen. Oder rühig Banjo spielen...
Alles Gute,
Alan

06.04.2010 / 03:00