06.12.2007 / 18:10 / Volker Jahr liest: Reise um die Welt (Georg Forster)

Sam der Forster und die öden Orte (0-0)


Extra die Mittagspause geopfert, um die Georg-Forster-Strasse zu fotografieren.
Hätten Jürgen Roth und Rayk Wieland ihre ab 1998 erschienene Trilogie ausgewählter Stadtverrisse "Öde Orte" 200 Jahre früher veröffentlicht, sie wären an Georg Forster als Autor nicht vorbeigekommen. So aber haben sie über Kassel, das sich in den Armutsstatistiken Jahr für Jahr mit Bremerhaven ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den bundesweiten Spitzenplatz liefert, Peter Köhler berichten lassen, und auch der braucht sich nicht zu verstecken:

"Kassel ist ein Unort. Die Atmosphäre ist herb wie das Bier, die Menschen sind grob und ungeschlacht wie die Nachkriegsbauten, nur dass die Bauten menschlicher wirken. (...) Noch heute ist Kassel die einzige Stadt der DDR, die im Westen liegt."

Das klingt schon sehr schön und trifft es auch ziemlich gut, doch hat Forster bereits 1781 in seiner Charakterisierung Kassels, wo er seine Zeit als Professor am landgräflichen Carolinum zubrachte, mit Blick auf die Gegenwart visionäre Kräfte offenbart:

"Es ist kein Ort auf der runden Erde, der soviel Armuth und splendida miseria in sich fasst als Cassel. Alles (...) stirbt hier bettelarm, hinterlässt Schulden, und Wittwen und Kinder im äussersten Elend; Ausser der sogenannten preussischen Clique im Ministerio (...) hat hier kein Mensch Geld, sondern alles leidet Noth, im wörtlichen Verstande. (...) Ich besuche keinen Menschen mehr, damit ich nicht besucht werde: ich folge hierinn dem Beyspiel aller übrigen Einwohner, die blos einmal im Kreise ihrer Familie leben müssen. – Und hoffe demnächst einmal auf meine Erlösung."

Diese folgt nach knapp sechs Jahren in der nordhessischen Provinz auf dem Fusse und führt ihn nach Wilna, wo aber alles noch viel schlimmer ist:

"Das Volk ist nunmehr wirklich durch die langgewohnte Sklaverei zu einem Grad der Thierheit und Fühllosigkeit, der unbeschreiblichsten Faulheit und stockdummen Unwissenheit herabgesunken, von welchem es vielleicht in einem Jahrhundert nicht wieder zur gleichen Stufe mit anderm europäischen Pöbel hinaufsteigen würde..."

Dass dieses Sam-der-Adler-Tum bei Forster wohl allumfassend angelegt war, wird in seiner Skizze über Berlin deutlich, das er auf der Durchreise kennen lernte:

"Berlin ist gewis eine der schönsten Städte in Europa. Aber die Einwohner? (...) Prasserei, ich mögte fast sagen Gefrässigkeit. ... An das schöne Geschlecht mag ich dort garnicht denken. War es je irgendwo allgemein verderbt, so ists in Berlin. ... wo garnichts gedacht, und ausser der gröbsten Wollust, garnichts gefühlt wird."

Dennoch hat es für Forster posthum in Kassel zur Benennung einer Strasse und in Berlin-Lichtenberg zur Benennung einer Oberstufenschule gereicht. Deren Homepage informiert darüber, dass aufgrund der demografischen Entwicklung ab 2008 ein Zusammenwachsen mit dem Immanuel-Kant-Gymnasium geplant ist. Forster hätte auch dies nicht gefallen, wie seine Auslassungen über Kant aus dem Jahr 1786 nahe legen:

"Wie ich sie hasse, diese Studierzimmergelehrten, diese Weltweisen hinterm Ofen, welche nie über ihr Städtchen hinausgekommen sind und trotzdem alles besser wissen, diese metaphysischen Haarspalter und Wortklauber."

Dieser durchaus sympathische, sich durchs Spätwerk ziehende Grundton lässt hoffen für seine im hochpreisigen Forsterband festgehaltenen Beschreibungen von Tahiti, Neuseeland, Neukaledonien, Tongatabu, Nomuka, Oster-, Gesellschafts- und Freundschaftsinseln.


Kommentar #1 von Dingens:

Jeder Satz ist ein Genuss. Wenn diese Kreativität nach dem Erhalt des Forsterbandes zu Weihnachten nachlassen sollte, muss ich wohl bei Herrn Jahr einbrechen, das Buch entwenden und ihm ab und zu in homöopathischen Dosen ein paar eingescannte Seiten zukommen lassen (so einen wundervollen hochpreisigen Band zerstört man schliesslich nicht). Die Zeit zwischen den homöopathischen Dosen wird dann wieder wie jetzt sein. Aber vielleicht wird das ja gar nicht nötig sein, weil es dann noch viel besser wird, wer weiss?

06.12.2007 / 19:43

Kommentar #2 von Dingens:

Zum Schluss würde ich Volker Jahr das Buch natürlich wieder geben.

06.12.2007 / 20:11

Kommentar #3 von Dingens:

Ich glaube, ich nehm's ihm gar nicht erst weg. Das wäre zu gemein. Nö, mach ich nicht.

06.12.2007 / 20:13

Kommentar #4 von Bummens:

Man hat aber auch zunehmend den Eindruck, dass die Lese- zunehmend zur Volker-Jahr-Maschine verkommt wird. Die ersten haben ja schon kapituliert, wie's scheint, Stichwort: Tolstoi. Und ob Herr Klang nach seinem doch eher an Dortmund v Hannover 2006 gemahnenden Erlebnis noch einmal etwas anderes als Pixi-Bücher darbieten wird – ich habe da so meine Zweifel. Und Herr Dingens: Was denn nun?

06.12.2007 / 22:20

Kommentar #5 von Frau Grasdackel:

Bruno Klang, völlig in Manesse versunken und von der Aussenwelt nichts mehr wahrnehmend, entging, dass das Streitgespräch des jungen Paares noch in Hugendubels Ausgangsbereich eskalierte, indem die Dame ihrer Aussage nun noch etwas mehr Schärfe verlieh: "Nein Volker, du wartest jetzt bis Weihnachten nächstes Jahr!" und ihn damit einfach stehen liess.

07.12.2007 / 04:26

Kommentar #6 von Dingens:

@Bummens:
Wieso 'was denn nun'? Steht doch da, bitte lesen. Ausserdem bin ich Frau Dingens.

07.12.2007 / 08:04

Kommentar #7 von LeGunn:

Das wäre Herrn Grasdackel nicht passiert.
Ansonsten sollte man in Erwägung ziehen, den Eichborn Verlag mit solch einer irrsinnigen Menge Geldes zu bewerfen, dass er im Himalaya stehen oder sich Google nennen dürfte. Dafür würde man allerdings alle je gedruckten Prachtbände einfordern und sie (neben den Geldberg) nach Tibet stellen. Auf der langen Pilgerreise Herrn Jahrs dorthin, hat er nun reichlich Zeit, Gelegenheit und Erlebnis hier darüber zu berichten. Hosiannah!

07.12.2007 / 16:22