27.11.2007 / 19:14 / Michaela Gruber liest: Über die Liebe (Stendhal)

Schöne Haut (1-38)

Die diversen Vorworte sind geschafft, fast vierzig Seiten gehen in meiner Ausgabe dafür drauf, ein Wust von Informationen, Geschichten und Meinungen. Manchmal habe ich für einen kurzen Moment das Gefühl, als könnte ich den Dichter durchs Dickicht hindurch sehen, er sieht aus wie Harvey Keitel, und ein wenig auch wie Mister Christian von der Bounty, das muss an der Uniform liegen.

Walter Hoyer schreibt, dass es nur eine wirkliche Leidenschaft in Stendhals Leben gegeben hat, Métilde Dombrowska aus Mailand. Die Ms und Ls, die Chigis und Nellas aus dem Buch, sind Pseudonyme für Métilde, während er selbst sich hinter Lisio Visconti, Salviati oder Delfante verbirgt. Er schreibt also über sich und seine eigene Liebe. Die von der Dame Dombrowska nicht erwidert wurde, worüber er sehr verzweifelt gewesen ist. Soweit die prickelnden Enthüllungen über den Autor, aber was offenbaren die schon, ausser seiner Bereitwilligkeit, sich mit komischen Fantasienamen über sich selbst lustig zu machen.

Noch mehr als den Verdacht, Autobiografisches verarbeitet zu haben, muss er den Vorwurf der Irrationalität gefürchtet haben, der bei einem Thema wie "Liebe" schon mal auftauchen kann. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe 1842, nennt er sein Buch eine "Physiologie der Liebe", was dem Ganzen einen schicken wissenschaftlichen Anstrich gibt. Zu dieser Zeit war es bereits seit zwanzig Jahren veröffentlicht, und er wusste, mit welchen Reaktionen er rechnen konnte. Aus "Furcht vor Lächerlichkeit" werde diese "Leidenschaft" besser "sorglich verborgen gehalten", und es liesse sich darüber am ehesten "wie über eine Krankheit sprechen".

Aber warum überhaupt darüber sprechen, mal angenommen, es geht nicht nur darum, die eigene narzisstische Kränkung therapeutisch zu verarbeiten?

Tatsächlich beginnt erst nach einem halben Jahrhundert voller Umwälzungen, (...) nämlich erst nach fünfmaligen vollständigem Wechsel in der Verfassung und der Zielsetzung unserer Regierungen, die Revolution auch in unsere Gesittungen einzudringen. Die Liebe ...


Wir befinden uns in bewegten Zeiten. Im Zeitalter der absolutistischen Könige geboren, war Stendhal sechs, als die französische Revolution begann, erlebte den Aufstieg Frankreichs unter Napoleon zur Grande Nation sowie dessen Niedergang und Verbannung. Das ist Stoff für eine Menge Kostümfilme. Sein Buch hätte man vielleicht auch "Die Liebe nach der Revolution" oder einfach "Liebe heute" nennen können. Ich nehme mal an, dass es ihm nicht nur um die Beschreibung seines privaten Gefühles ging.

Bei einem Schriftsteller sind biografische Tatsachen letztlich egal, was zählt, sind seine Worte. Dieser ist schon seit hundertfünfundsechzig Jahren tot, und ich bin mir nicht immer ganz sicher, ob ich ihn noch richtig verstehe. In der Einleitung zur ersten Ausgabe 1822 mokiert sich Stendhal über seine Mitbürger, die in der Literatur das "wahrhaft Französische" suchen, sowie über Ausdrücke, wie "echt spanische Treue" und "echt englische Tugenden", die man heute treffend Vorurteile nennen würde. Einen Absatz später dann das:

In Konstantinopel wie bei allen barbarischen Völkern ist diese blinde, engherzige Voreingenommenheit für das Vaterland eine im Blute steckende Wildheit. Bei gebildeten Völkern ist sie eine schädliche, unglückselige, unverträgliche und bei der geringsten Kränkung des äussersten bereite Eitelkeit.


Klingt das jetzt nur für mich unlogisch? Abgesehen davon, dass "barbarische" gegenüber "gebildeten" Völkern doch eine Übertreibung sein muss. Ich habe allerdings keine Ahnung, wie weit entfernt sich Konstantinopel damals von Paris aus angefühlt hat. Erst nach ein paar Mal Lesen taucht die Frage auf, ob das, im Zusammenhang mit dem zuvor Geschriebenen, Ironie sein könnte. Kein Räuspern oder Augenzwinkern deutet darauf hin, die Zeilen funkeln im Dunkeln.

38 von 387 Seiten

Michaela Gruber / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen


14.11.2007 / 03:02 / Michaela Gruber liest: Über die Liebe (Stendhal)

Über die Liebe

Mein Lieblingsroman ist Stendhals "Rot und Schwarz". Schon beim ersten Lesen, mit Anfang Zwanzig, war ich von der Hauptfigur Julien Sorel fasziniert, "dessen innere Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse und sein Idealismus mit gleichzeitiger Korrumpierbarkeit und dem Willen gesellschaftlich aufzusteigen einhergehen."*

Und der dabei nicht mal unsympathisch wirkt. Präzise geschildert, machte mir das Buch eine Haltung bewusst, die so in meinem bisher klaren Weltbild nicht denkbar gewesen wäre. Jetzt musste ich mich fragen, ob ich sie nicht selbst gelegentlich lebte.

Wie auch immer, Stendhal war toll und ich wollte mehr. Mit seinem zweiten grossen Roman und mir wurde es aber irgendwie nichts – über die Jahre immer wieder zur Hand genommen, überkommt mich jedes Mal nach einigen Seiten eine grosse Müdigkeit, und ich kann den Sätzen nicht mehr folgen. Das könnte damit zu tun haben, dass mich das Thema, also Kriege im allgemeinen und die Napoleonischen im besonderen, nicht so interessiert. Im Grunde fängt es schon beim Titel an: "Die Kartause von Parma". Parma mit Melone, gut, aber was zum Teufel ist eine Kartause? Mag sein, dass da beim Leser des frühen 19. Jahrhundert die Assoziationen nur so sprudelten, bei mir bleibt der innere Bildschirm dunkel.

Deshalb bin ich sehr froh, dass ich jetzt noch ein weiteres Buch von ihm entdeckt habe. "Über die Liebe" das ist ein Titel nach meinem Herzen, mit "Liebe" kann ich was anfangen. Der Leser von damals übrigens nicht, das Buch war ein beispielloser Misserfolg, seit der Veröffentlichung 1822 bis zum Jahr 1833 wurden genau siebzehn Exemplare verkauft. Stendhal selbst hat sich das, ganz Türsteher des eigenen exklusiven Clubs, in einem späteren Vorwort schönzureden versucht: ** "Ich schreibe allein für hundert Leser, und zwar für jene unglücklichen, liebenswerten und anziehenden Gemüter, die ein Leben frei von Heuchelei und Voreingenommenheit führen." Ich werde das Buch mit dem schönen Titel trotzdem lesen.

* Walter Hoyer in "Über die Liebe" von Stendhal, Inselverlag, 1975. Das Buch hat auf fast jeder der 387 Seiten eine Fussnote, ich übe das schon mal.

** Vorwort zur zweiten Auflage 1942. Stendhal hätte unterstrichene Links sicher praktisch gefunden.


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