13.11.2007 / 12:03 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Wir werfen mit euren Knochen die Äpfel von den Bäumen (175-308)

Jetzt muss ich aber mal von dieser negativen Einstellung herunter! Das Buch habe ich mir selber ausgesucht, und es hat 24 Euro 90 gekostet. Wäre ja gelacht, wenn wir uns den Herrn Ripple nicht schönlesen!

Sprache. Das Buch liest sich nicht schwer, aber etwas hinderlich sind die weitgreifenden Appositionen, die einen Satz immer länger und länger drücken. Ob das auf die Übersetzung zurückzuführen ist, kann ich leider nicht sagen. Ich habe einmal nachgeschaut, was der Übersetzer Klaus Berr sonst noch übertragen hat, und ich war recht erstaunt: Michael Crichton, Noah Gordon, Arthur Hailey und Kathy Reichs, die mit den Knochenromanen. Wie ist das eigentlich mit Übersetzern? Kann man sich die Karriere mit Unterhaltungsliteratur versauen oder ist das den Verlagen egal, heute Crichton, morgen Pynchon?

Jetzt aber wieder zurück zum Text. Teil 1 ist nach 227 Seiten beendet. Tom Ripple notiert dazu:

Bis hierher bin ich also gekommen. Ich weiss noch immer nicht, was das Ganze soll, aber ziemlich lange gedauert hat es schon.

Schön gesagt. Teil 2 setzt 10 Jahre später ein. Mrs. Ripple hat mit den Kindern ihren Mann verlassen, Tom Ripple ist Frührentner und wohnt mittlerweile in Suffolk. Davon war ich ehrlich überrascht: mühsam hat er die Romanumgebung eingerichtet, und dann ist alles weg und der Roman muss vollständig neu möbliert werden. Das heisst, die Kinder kommen auch in Teil 2 an, dazu auch mal ein längeres Zitat, recht typisch für den Chadwickschen Stil:

..., dass Kinder immer weniger an einen denken (von einem halten), als man selber an sie denkt (von ihnen hält). Und warum auch nicht, werden sie doch zu einem immer grösseren Teil der eigenen Vergangenheit, je weniger Zukunft man selber hat, und man selber wird zu einem immer kleineren Teil ihrer Zukunft, die wiederum zu ihrer Vergangenheit wird, während zu diesem Prozess ständig andere hinzukommen, die einen selber zunehmend herausdrängen.

Genau, liebe Eltern, und irgendwann einmal, dann ist euer Anteil nämlich null.

Zustand: Warmgelesen. Was ist wohl in dem vergessenen Koffer von Nanny Phipps, der Vormieterin in Suffolk?
Prophezeiung: Der neue Verlobte der Tochter Virginia, das ist ein ganz schlimmer Finger.

308 von 928 Seiten

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10.11.2007 / 10:05 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

London's Burning (63-175)

Man kennt das aus Musikzeitschriften, wenn der Redakteur sich bei einer Debutrezension in den Vergleich hinaufsteigt: "X klingt so, als hätte Y versehentlich bei der Band von Z mitgespielt." Als Unkundiger, der weder Y kennt noch von Z jemals etwas hörte, muss man damit eine Gleichung mit drei Unbekannten lösen oder gleich bei Amazon spicken. Ich probiere das auch mal, aber mit bekannten Sängern: Tom Ripple klingt so wie eine Band aus Oblomow, Murphy und Bartleby. (Falsch an dem Vergleich ist natürlich die Tonhöhe. Jetzt fange ich auch schon an mit Chadwickklammern.) Ich meine damit, er ist ein eitler Phlegmatiker, der im Zweifelsfall eher nichts als etwas tut, aber das sich selbst und uns ausführlich erläutert.


Typische Szene aus einem isländischen Familienroman Quelle
Passiert ist bislang nichts, da kann ich mal auch ein wenig über die Leute plaudern: ich zähle bislang zehn Personen, nämlich die vier Ripples, die vier Nachbarn, der Chef und ein Gehilfe. Schwer vorstellbar, dass Chadwick mit dieser Mannschaft durch 928 Seiten rudert. Hat eigentlich mal jemand den durchschnittlichen Personalbestand in der Weltliteratur gezählt? Gibt es da länderspezifische Besonderheiten, etwa dass der Isländer mit Figuren geizt, weil er bei mehr als zehn Figuren vor dem Bundesverfassungsgericht verklagt würde? Ist es ein Zeichen besonderer Qualität, mit derart umfangreichen Belegschaften umgehen zu können, dass eigentlich ein siebenköpfiger Romanbetriebsrat einzurichten wäre, Herr Tolstoi?

Eines ist gewiss: Charles Chadwick wird nicht als grosser Landschaftsdarsteller in die Literaturgeschichte eingehen. Ich muss sagen, dass mich sehr ausführliche Landschaften eher langweilen und ich bislang dachte, ich kann auch ganz gut ohne. Chadwick bzw. Ripple ist damit aber so sparsam, als zahle er für jeden beschriebenen Baum fünf Pfund in die Bowlingkasse. Zum Beispiel gibt es einen Ausflug der Ripples mit den Nachbarn in den Park. Mit "schöner Park" ist die Chadwicksche Beschreibung der Umgebung auch schon abgeschlossen. Sowas hätte Adalbert Stifter aber ganz anders gesungen!

Zustand: wenn ich beim Lesen sympathische Leute kennenlernen möchte, kann ich auch zu Siddhartha greifen
Prophezeiung: Mrs. Ripple hat einen Geliebten.

175 von 928 Seiten

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07.11.2007 / 16:19 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Reihenhaus, jetzt (1-63)


North Circular Road, Ort des Geschehens Quelle
Ich lese gerade, dass "Ilsebill salzte nach" aus Grass´ Butt von Stiftung Lesen als der schönste Anfangssatz eines deutschen Romans gewählt wurde. Charles Chadwick beginnt mit "Eine Weile waren die Häuser links und rechts von uns leer", das ist gewiss nicht gross, aber besser als dieser eitle erste Grassatz, finde ich, 1:0 für England.

London 1970. Tom Ripple, Anfang 40, wohnt in der Nähe der North Circular Road gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Der Roman besteht aus seinen Aufzeichnungen, die er während reichlich freier Zeit in seinem langweiligen Job schreibt, und zwar für "ein bisschen Selbsterkundung". Seine Frau ist Sozialarbeiterin und geht ihrem Mann mit ihrer Gutartigkeit auf die Nerven, die Kinder sind unauffällig. Das Personal wird komplettiert durch zwei Nachbarpärchen sowie Ripples Chef und einen Gehilfen. Alles sehr ruhig bis jetzt. Es liest sich so, als würde langsam der Teppich ausgerollt, auf dem bald die Romanmöbel aufgestellt werden.

Auffällig: Chadwick, oder Ripple, liebt die Klammer. Er macht sehr ausführlich nachdrücklich Gebrauch davon, durchaus auch einmal über 20 Zeilen. Durchschnitt sind drei Klammern pro Seite, aber ich hab auch schon fünf gefunden. Die Klammer ist im Roman aus gutem Grund nicht besonders beliebt. Ich finde, entweder gehört etwas dazu, dann steht es da, oder nicht, dann steht es eben nicht da. Klammertext aber ist nur halb dabei, wie eine Schnuppermitgliedschaft, ein Probeabo, ein dritter Torhüter.

Zustand: misstrauisch, aber wir haben ja Zeit.
Prophezeiung: wahrscheinlich hat einer dieser frühen Figuren ein erhebliches Tragikpotential ab Seite 500. Ich tippe auf den Nachbarn, den neugierigen Mr. Webb.


06.11.2007 / 07:43 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Der langsamste Autor der Welt

Charles Chadwick ist ein langsamer Autor. An seinem Debüt hat er mehr als 30 Jahre geschrieben, bis es 2005 im Original erschien. Immerhin hat er 928 Seiten geschafft, also eine Länge, die irgendwo zwischen "Generationenroman" und "Portrait einer Epoche" steht.

Schwer vorstellbar, wie Chadwick sich gefühlt hätte, wenn sein Roman nach 30 Jahren überall abgelehnt worden wäre. Das wäre ungefähr die Vergeblichkeitsklasse, als würde man eine Chinesische Mauer bauen, und dann hätten die Mongolen keine Lust mehr aufs Angreifen. Oder eine Pyramide einzuweihen, – aber der alte Pharao ist inzwischen Hindu geworden. Charles Chadwick aber hatte Glück, und so ist er endlich Debütant, mit 72 Jahren.

Ich habe ein paar Beschreibungen und Rezensionen beiläufig gelesen, und habe bis jetzt erfahren: wir begleiten einen Jedermann namens Tom Ripple über 30 Jahre seines alltäglichen englischen Lebens. Es wird nicht allzuviel passieren, und der eine oder andere Rezensent ist unzufrieden über die Behandlung des Romanpersonals, über den Stil, über die Länge im allgemeinen und Mr. Ripple im besonderen.

Im Regelfall bemühen sich Autoren um aussergewöhnliches Personal oder um aussergewöhnliche Ereignisse oder um beides zusammen. Der Alltagsroman (so erkläre ich es mir einmal) ist von gewöhnlichen Personen bevölkert, denen auch nichts Besonderes widerfährt. Das kann langweilig werden, und deshalb lassen Autoren die alltäglichen Helden auch gerne einmal sterben. Oder das Personal des Romans ist so jung, dass sich der Leser wenigstens am ähnlich Erlebten wärmen kann. Weder das eine oder andere ist im Unaufälligen Mann zu erwarten.

Den letzten Alltagsroman, den ich gelesen habe, war Everyman/Jedermann von P. Roth. Um mir noch einmal die Zeitspanne zu vergegenwärtigen: Als Chadwick mit seinem Roman begann, waren Portnoys Beschwerden noch nicht mal an der Wand getrocknet. Mein letztgelesenes Debüt war Frl. Pessl aus der Feuerwerksabteilung. Für diese Vormieter kann Herr Chadwick nichts. Ich kann es aber auch nicht mehr ändern.

Zustand: mittlere Spannung, so auf dem Niveau der 2. Hauptrunde im DFB-Pokal.
Prophezeiung: es geht so langsam los wie Zufussgehen auf einer Rollstuhlrampe.


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