23.11.2007 / 07:58 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Abends alleine in der Wohnung sitzen (495-670)


Mitleid, Mitgefühl, Rührung, wenn Sie sich die Beine wegdenken
Quelle (Andreas Trepte, Marburg)
Stellen Sie sich einmal den semantischen Raum bildlich vor, der aus den Begriffen Mitleid, Mitgefühl und Rührung gebildet wird. Bei mir sieht dieser Begriffsraum ungefähr aus wie eine beinlose Ente. Das Mitgefühl ist der dicke Körper, der sich beim Mitleid zum Schwänzchen auswächst, und auf der anderen Seite hängt die Rührung dran. Vielleicht können Sie sich das irgendwie vorstellen.

Tom Ripple sitzt also allein und sechzigjährig in seiner Wohnung in Highbury, schiebt sich abends einen Kräuterkuchen in den Backofen, guckt den Mädchen hinterher, unterhält sich mit seinen komischen Nachbarn, guckt abends Fernsehen und schreibt das alles, alles für uns auf. Es ist schon klar, dass irgendwann einmal nicht mehr viel vor uns liegt, nachdem hoffentlich ziemlich viel hinter uns gelegen haben wird. Aber was machen wir eigentlich, wenn letzteres nicht geklappt hat?

Das gilt nicht nur für Tom Ripple, sondern auch für das restliche Personal. Etwa seine Nachbarin, die polnische Witwe Mrs. Bradecki, die er nach Warschau und Treblinka begleitet, weil sie nicht auf sich selbst achtgeben kann, oder weil eine Ablehnung mehr Entschlossenheit erfordert hätte als eine Zusage. Im Standardrepertoire eines Romans wäre das so etwas wie ein "Wendepunkt" etc. etc., aber für uns und Tom Ripple bleibt auch Polen blass, und grau war es sowieso schon.

Oder die beiden Tänzerinnen. Michelle entwickelt sich zum Ballettschwan, Annelise hingegen tanzt schlecht und enttäuscht die Erwartungen ihrer Familie. Tom Ripple versucht, den beiden Mädchen wichtig zu werden, aber auch das funktioniert nicht. Das ist einfach mal so herunterberichtet, und ich kann Ihnen noch nicht einmal sagen, ob das trostlos oder entenfähig ist, und vor allem, an welcher Stelle der Ente.

Zustand: Beim Lesen wird die linke Hand mittlerweile mehr belastet als die rechte.
Prophezeiung: (nach diversen Prognosefehlern mal etwas Einfaches:) Tom Ripple zieht bald um.


21.11.2007 / 11:04 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Einiges über Altersgeilheit (407-494)

Sollte jemand da draussen (Ich stelle mir das Internet immer als "drinnen" vor, die restliche Welt ist "draussen"; ich weiss, das ist strittig) gerade an einem brisanten Roman arbeiten, in dem sehr junge Mädchen den Helden zum Fernsehgucken besuchen, und dieser anschliessend unschuldig dreckiger Absichten verdächtigt wird, so sei er hiermit gewarnt. Es kommt in Kempowskis "Hundstagen" vor, dort schauen die Mädchen immer Tom & Jerry, und es passiert mit Ripple, dort knabbern die Mädchen Jaffa-Kekse, bis ihre Mutter erbost sein Wohnzimmer stürmt:

In erster Linie jedoch dachte ich daran, was für eine Dreistigkeit es gewesen war, in einem fremden Haus den Fernseher auszuschalten, vielleicht sogar zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit.

Aber was ist schon unschuldig? Hier bitte:

Aber die Wahrheit ist, auch wenn ich sie nie anrührte, so wollte ich es doch ... ein nackter Arm, eine Wange, ein nacktes Bein, sie mir aufs Knie setzen ... Mehr gibt es nicht, was ich mir noch eingestehen könnte.


William Holman Hunt, Awakening Conscience Quelle
Damit ist Tom Ripples Zeit in Suffolk auch schon vorbei. Wir schreiben mittlerweile 1990, er geht zurück nach London und zieht nach Highbury in eine kleine Mietwohnung. Ja, natürlich sind auch wieder seltsame Nachbarn da, nicht zuletzt die beiden kleinen Balletttänzerinnen in der Wohnung unter ihm, immerhin sind die volljährig. In seine Wohnung hängt er eine Reproduktion von William Holman Hunts "Awakening Conscience", mit der wir, Chadwick und Ripple den Bogen erwachend zur Unschuld wieder schliessen.

Übrigens: Wie finden Sie das eigentlich als Leser, dass man Bilder, die in Romanen herumhängen, sofort und problemlos drinnen googeln kann? Einerseits: Sie wissen dann, wie das Bild aussieht. Andererseits: Sie wissen nicht mehr, wie dieses Bild hätte für Sie aussehen können, wenn es nicht mehr so leicht erreichbar ist, und Sie es vielleicht erst Jahre später in einer Monographie entdecken und Sie längst vergassen, von woher und warum Sie dieses Bild einmal suchten.


Zustand: Ich habe noch immer nicht über Humor und Mitleid geschrieben.
Prophezeiung: Balletttänzerinnen, au weia.


16.11.2007 / 08:03 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Weisses Fleisch (308-407)


Das ist nicht Suffolk, sondern so ein Bild heisst bei Flickr "Trostlos". In Wirklichkeit handelt es sich um eine Oase. Quelle
Es ist schon viel Kunstfertigkeit darauf verwendet worden, den Eindruck völliger Kunstlosigkeit herzustellen. Wenige dürften damit so weit gekommen sein wie Chadwick. Denn machen wir uns nichts vor: letztlich sitzt hinter jedem vermeintlichen Simpel ein Autor der Gruppe 47, mit Booker Prize, aus Berlin Mitte oder alles zusammen. Ilsebill salzte nicht nur nach, sondern würzte den Butt von Günter Grass. Weiss man. Liest man.

Nicht so bei Chadwick. Tom Ripple isst auch lieber Fischstäbchen mit Pommes, oder auch eine grosse Pfanne mit Fischstäbchen mit Pommes. Und verdammt, irgendwann glauben Sie ihm das alles auch. Als misstrauischer Leser rechnet man damit, dass hinter dem schlichten Helden sich der kluge Autor aus der Deckung bewegt. Nach 100 Seiten. Nichts. Nach 200 Seiten. Alles ruhig gegenüber in den Gräben. Seite 300 handelt von tiefgefrorenen Koteletts.

Wir befinden uns im zweiten Teil des Romans, Tom Ripple lebt einige Jahre als Mittfünfziger und Frührentner allein in Suffolk. Einen trostloseren Aufenthalt hat vielleicht noch Solschenizyn hinbekommmen. Ripple lernt Maureen kennen, und sie machen tatsächlich Sex, ja, und es ist Sex mit altem, weissem, weichem Fleisch. Nach ihrem Liebeswochenende fragt er einmal nach, wie es ihr denn so gefallen hat:

"Na ja, ein Besuch in einem Altenheim und einer Dorftöpferei sind kaum ... Ich weiss, das klingt sehr undankbar, Tom, aber ..."

So sind wir jetzt beim feinen Unterschied zwischen Trostlosigkeit und der Darstellung von Trostlosigkeit, das ist die Art von Unterscheidungen, mit denen auch Descartes immer so seine Schwierigkeiten hatte. Und so langsam, muss ich gestehen, hat mich Chadwick am Haken. Weil diese Durchschnittlichkeit so extrem ist. So-schlecht-dass-es-wieder-gut-ist? Ach, fragen Sie mich mal in 200 Seiten.

Übrigens: die Klammern sind fast völlig verschwunden, dafür gibt es jetzt Landschaften.

Zustand: Nicht vergessen, in den nächsten Lieferungen über Humor und über Mitleid zu schreiben, aber vielleicht nicht zusammen.
Prophezeiung: Nach Suffolk geht es wieder bergauf.

407 von 928 Seiten

Bruno Klang / Dauerhafter Link / Buch kaufen und selber lesen


13.11.2007 / 12:03 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

Wir werfen mit euren Knochen die Äpfel von den Bäumen (175-308)

Jetzt muss ich aber mal von dieser negativen Einstellung herunter! Das Buch habe ich mir selber ausgesucht, und es hat 24 Euro 90 gekostet. Wäre ja gelacht, wenn wir uns den Herrn Ripple nicht schönlesen!

Sprache. Das Buch liest sich nicht schwer, aber etwas hinderlich sind die weitgreifenden Appositionen, die einen Satz immer länger und länger drücken. Ob das auf die Übersetzung zurückzuführen ist, kann ich leider nicht sagen. Ich habe einmal nachgeschaut, was der Übersetzer Klaus Berr sonst noch übertragen hat, und ich war recht erstaunt: Michael Crichton, Noah Gordon, Arthur Hailey und Kathy Reichs, die mit den Knochenromanen. Wie ist das eigentlich mit Übersetzern? Kann man sich die Karriere mit Unterhaltungsliteratur versauen oder ist das den Verlagen egal, heute Crichton, morgen Pynchon?

Jetzt aber wieder zurück zum Text. Teil 1 ist nach 227 Seiten beendet. Tom Ripple notiert dazu:

Bis hierher bin ich also gekommen. Ich weiss noch immer nicht, was das Ganze soll, aber ziemlich lange gedauert hat es schon.

Schön gesagt. Teil 2 setzt 10 Jahre später ein. Mrs. Ripple hat mit den Kindern ihren Mann verlassen, Tom Ripple ist Frührentner und wohnt mittlerweile in Suffolk. Davon war ich ehrlich überrascht: mühsam hat er die Romanumgebung eingerichtet, und dann ist alles weg und der Roman muss vollständig neu möbliert werden. Das heisst, die Kinder kommen auch in Teil 2 an, dazu auch mal ein längeres Zitat, recht typisch für den Chadwickschen Stil:

..., dass Kinder immer weniger an einen denken (von einem halten), als man selber an sie denkt (von ihnen hält). Und warum auch nicht, werden sie doch zu einem immer grösseren Teil der eigenen Vergangenheit, je weniger Zukunft man selber hat, und man selber wird zu einem immer kleineren Teil ihrer Zukunft, die wiederum zu ihrer Vergangenheit wird, während zu diesem Prozess ständig andere hinzukommen, die einen selber zunehmend herausdrängen.

Genau, liebe Eltern, und irgendwann einmal, dann ist euer Anteil nämlich null.

Zustand: Warmgelesen. Was ist wohl in dem vergessenen Koffer von Nanny Phipps, der Vormieterin in Suffolk?
Prophezeiung: Der neue Verlobte der Tochter Virginia, das ist ein ganz schlimmer Finger.

308 von 928 Seiten

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10.11.2007 / 10:05 / Bruno Klang liest: Ein unauffälliger Mann (Charles Chadwick)

London's Burning (63-175)

Man kennt das aus Musikzeitschriften, wenn der Redakteur sich bei einer Debutrezension in den Vergleich hinaufsteigt: "X klingt so, als hätte Y versehentlich bei der Band von Z mitgespielt." Als Unkundiger, der weder Y kennt noch von Z jemals etwas hörte, muss man damit eine Gleichung mit drei Unbekannten lösen oder gleich bei Amazon spicken. Ich probiere das auch mal, aber mit bekannten Sängern: Tom Ripple klingt so wie eine Band aus Oblomow, Murphy und Bartleby. (Falsch an dem Vergleich ist natürlich die Tonhöhe. Jetzt fange ich auch schon an mit Chadwickklammern.) Ich meine damit, er ist ein eitler Phlegmatiker, der im Zweifelsfall eher nichts als etwas tut, aber das sich selbst und uns ausführlich erläutert.


Typische Szene aus einem isländischen Familienroman Quelle
Passiert ist bislang nichts, da kann ich mal auch ein wenig über die Leute plaudern: ich zähle bislang zehn Personen, nämlich die vier Ripples, die vier Nachbarn, der Chef und ein Gehilfe. Schwer vorstellbar, dass Chadwick mit dieser Mannschaft durch 928 Seiten rudert. Hat eigentlich mal jemand den durchschnittlichen Personalbestand in der Weltliteratur gezählt? Gibt es da länderspezifische Besonderheiten, etwa dass der Isländer mit Figuren geizt, weil er bei mehr als zehn Figuren vor dem Bundesverfassungsgericht verklagt würde? Ist es ein Zeichen besonderer Qualität, mit derart umfangreichen Belegschaften umgehen zu können, dass eigentlich ein siebenköpfiger Romanbetriebsrat einzurichten wäre, Herr Tolstoi?

Eines ist gewiss: Charles Chadwick wird nicht als grosser Landschaftsdarsteller in die Literaturgeschichte eingehen. Ich muss sagen, dass mich sehr ausführliche Landschaften eher langweilen und ich bislang dachte, ich kann auch ganz gut ohne. Chadwick bzw. Ripple ist damit aber so sparsam, als zahle er für jeden beschriebenen Baum fünf Pfund in die Bowlingkasse. Zum Beispiel gibt es einen Ausflug der Ripples mit den Nachbarn in den Park. Mit "schöner Park" ist die Chadwicksche Beschreibung der Umgebung auch schon abgeschlossen. Sowas hätte Adalbert Stifter aber ganz anders gesungen!

Zustand: wenn ich beim Lesen sympathische Leute kennenlernen möchte, kann ich auch zu Siddhartha greifen
Prophezeiung: Mrs. Ripple hat einen Geliebten.

175 von 928 Seiten

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1.5 2.5 3.5 4.5