09.01.2008 / 06:11 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Einführung in das Tarockspiel (163-202)

Vater Vajkay trifft seine alte Bekannten wieder und wird verführt, doch endlich einmal wieder Karten zu spielen. Er war früher ein stadtbekannter Tarockspieler, und nach kurzer Eingewöhnung lässt er es wieder richtig krachen. Kosztolányi schreibt sich in Begeisterung:

Tarock ist nicht so ein dahergelaufenes Spiel wie die, die heutzutage ausgedacht werden. Es reicht weit in die Vergangenheit zurück, hat vornehme Ahnen. Aus Asien stammt es, so wie unsere heldenhaften Vorfahren, und es verlangt eine verschlungene, orientalische Denkweise.

Das will ich etwas genauer wissen. "Paskiewitsch" wird gespielt, eine der Varianten des Ungarischen Tarock. Ich schlage nach, und zwar in der verdienstvollen Humboldt-Enzyklopädie der Kartenspiele (hier), die in orientalischer Ausführlichkeit ungefähr 500 Spielregeln enthält. Was mich immer fasziniert, ist die Ernsthaftigkeit der Spielsprachen, die wie das Vokabular entlegener Wissenschaften daherkommen:

Eine Einladung wird normalerweise nur bei starkem Blatt mit Trullstück(en) angesagt. Ist zufällig der Pagat der einzige Trull, dann muss der betreffende Spieler beim ersten Ausspielen Pagat Ultimo ansagen.... Man beachte, dass beim Ungarischen Tarock auch ein Solo mit Partner gespielt wird. Trullstücke oder eine durch Sprung angezeigte Tarock XIX oder Tarock XVIII dürfen nicht verlegt werden. Es gibt auch die Möglichkeit, sich selbst zu rufen, dann darf allerdings die gerufene Tarock nicht abgeworfen werden.


Tarockhand mit Trullstück
Grossartig, es gibt Trullstücke, ein Solo mit Partner und man kann sich selbst rufen! Entlang dieser märchenhaften Einzelheiten kann ich mir ein ungefähres Bild machen: das Ungarische Tarock ist ein Stichspiel zu viert, bei dem die Partnerkonstellation wechselt und in jeder Runde neu erspielt werden muss, vielleicht entfernt mit Doppelkopf vergleichbar. Mit der bemerkenswerten Ausnahme des Pokerspiels gelten Kartenspiele heutzutage eher als spiessig und unhip. Dass es gerade das Pokerspiels ist, das die allerniedrigste Komplexität des Spielablaufs mit den höchsten Anforderungen bei der Einschätzung der Psyche des Spielpartners verbindet, ist geradezu ironisch in einer Zeit, der man die höchste Komplexität mit weitgehender Austauschbarkeit der Akteure unterstellt. Jedenfalls sind Spiele besonders eindrucksvolle Formen der Weltsimulation, wie auch Kosztolányi schwärmt:

Wer Karten spielt, geniesst voll und ganz die Wonnen des Vergessens, er lebt in einem anderen Universum, dessen Fläche mit Karten ausgelegt ist.

Selbst wenn man nicht die gesamte Zivilisation, Sprache, Wissenschaft zum Spiel erklärt, was dann alles und wieder nichts bedeutet, sondern sich auf einen engeren Rahmen beschränkt, ist der Altenburg-Stralsunder Anteil an der Welt bemerkenswert. So haben die Kartenspiele ihre Gene an die Computerspiele weitergegeben, etwa bei den Adventures (Patiencen), bei den Aufbausimulationen (Sammelspiele wie Rommé oder Canasta) oder gar den Egoshootern (Stichspiele). Im Sport finden wir mit den Sportwetten sogar Spiele zweiter Ordnung, also Spiele, die sich auf Spiele beziehen. Die Strategien der Banken im Hypothekenbereich sind offenbar den Spielregeln des Schieberamsch entlehnt. Vielleicht ist es sogar die Besonderheit des Sadomasochismus, dass er sich auf der haarscharfen Grenze zwischen darstellender Kunst und Spiel bewegt. Also Trullstücke, wohin man auch blickt.

Vater Vajkay torkelt nach seiner Tarockrunde schliesslich besoffen nachhause. Den Betrunkenen, schreibt Kosztolányi, passiert nichts, denn die Jungfrau Maria trägt sie in ihrer Schürze. Sehr schön.


Detail: Unterdessen erhält Frau Vajkay Besuch von einer Freundin und bietet ihr übrig gebliebene "Theaterschokolade" an. Mir war neu, dass es tatsächlich einen Vorläufer von Kinopopcorn und Fernsehkartoffelchips gibt, aber es ist historisch nur folgerichtig (bzw. vor-richtig, ein Wort, das im Deutschen schmerzhaft fehlt). Die Frage ist nur, ob sich auch eine typische Netzsüssigkeit wird etablieren können, Internetdrops oder Webmäusespeck, Blogbonbons.


02.01.2008 / 17:32 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Interessierte Abscheu (90-163)

Die Vajkays können ihre Tochter Lerche nicht verheiraten. Aus Scham ziehen sie sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Sie erklären sich ihre Selbstgenügsamkeit wie ein Fuchs die sauren Trauben: das Essen in Restaurants ist schlecht, die Moral zweifelhaft, und schliesslich sind sie ja auch alt. Es hat einen einfachen Grund, warum ihre mittlerweile über dreissigjährige Tochter in die Altjüngferlichkeit rollt: sie ist hässlich.


Rätselbild mit Lerche und zwei Anspielungen
Die Wissenschaft hat über die menschliche Schönheit herausgefunden, dass vor allem zwei Faktoren die Attraktivität erhöhen: Jugend und Durchschnitt (auszuprobieren z.B. hier). Der Effekt beruht darauf, dass Durchschnitte höhere Symmetrien erzeugen, oder kurz knapp: alle zusammen sind wir schön, oder waren es. Mit der Hässlichkeit ist es etwas vertrackter. Man könnte annehmen, dass Hässlichkeit einfach nur fehlende Schönheit ist, womit beide auf einer Skala lägen, oder aber dass sie eine eigene Qualität hat oder ist. Hinzu kommt eine eigenartige Asymmetrie: selbst grosse Schönheit fächert sich auf in die Geschmäcker, grosse Hässlichkeit ist hingegen eindeutig. Dazu passt, was Prof. Hamermesh von der Universität Texas herausfand, als er die Einkommensunterschiede von Hässlichen und Schönen untersuchte : tatsächlich hat grosse Schönheit kaum einen Einfluss auf das Einkommen, die Hässlichen hingegen verdienen signifikant weniger. Er fand auch heraus, dass Investitionen in eigene Schönheit eine beschissene Rendite haben. Da sollte man sich selbst lieber schönsaufen, als sein Geld in die eigenen subprimes zu verpudern.

Apropos Varianz der Geschmäcker: mir ist aufgefallen, dass ich Carla Bruni sehr hässlich finde. Ihr neuer Freund bzw. die andere Hälfte der Welt sieht das nicht. Und ihr Freund geriet vor einiger Zeit in Schwierigkeiten, weil er auf wessen Yacht herumschipperte? Genau, auf dem Boot von Vincent Bolloré, den wir ja schon als Lerchenpapierproduzenten kennenlernten.


Carl Heinrich Stratz' Analyse kleiner Schlampen
Beim Herumsuchen für diesen Artikel stiess ich auf Carl Heinrich Stratz, der um die vorletzte Jahrhundertwende einiges Seltsame über Schönheit herausgefunden hat, unter anderem eine eigenwillige Interpretation der beauté de diable. Nach Stratz ist die Teufelsschönheit mit 17 eine echte Rakete und gibt Anlass zu noch schöneren Hoffnungen (kleines Kreuz). Aber Pustekuchen: der Teufelsbraten schmiert ab und sieht mit 35 ungefähr so aus wie die halbaufgegessenen Pommes Rotweiss, die vor einer Woche in den Hausflur geschmissen wurden. Pfui.

Detail: Grosse Belobigung: sie gebührt Frau Grasdackel, die den Eisenbahnunfall aus dem Netz fischte: wahrscheinlich war es das Zugherunterfallen vom 5.9.1894 in Columbus, Ohio. In diesem Zusammenhang danke ich besonders für den Hinweis auf das Online-Archiv der New York Times, welches Suchanfragen bis 1851 gestattet und sogar Faksimiles ausgibt. Sehr schöne Maschine.


18.12.2007 / 22:14 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

45 U/min (48-83)

Die Abreise ihrer Tochter wirft das Ehepaar Vajkay aus der Bahn. Lerche ist das Rückgrat ihrer Gewohnheiten, und allein sind beide ratlos, was sie mit sich anfangen sollen. Sie schlafen aus. Sie gehen seit langer Zeit wieder einmal essen. Es schmeckt gut im "König von Ungarn", aber das geben sie sich gegenseitig nicht zu. Mir ist zunächst Kosztolányis ökonomischer Stil aufgefallen. Er hat keine Angst vor Sätzen in drei Worten, ganz im Gegenteil, er setzt sie gern einmal dazwischen oder auch hintereinander, wenn das Geschehen auch nur in kurzen Sätzen weitergeht. Der Erzähler ist eher traditionell allwissend, dennoch liest man eine feine Ironie mit, die meiner Vermutung nach auch mit Kosztolányis souveränen Tempi zusammenhängt.


Lesemaschine für alle drei Geschwindigkeiten (Quelle)
Der Umgang mit Tempo in erzählender Prosa ist gar nicht so uninteressant. Denn es sind drei Geschwindigkeiten, die da synchronisiert werden müssen: das Tempo des Geschehens, des Erzählers und des Lesers. Und bei einem langsamen Tempo sind es nicht unbedingt die Länge der Sätze, die Anzahl der Konjunktionen oder Relativsätze, die sich in weiteren Untersätzen verlieren, welche das Tempo wie Felgenbremsen drosseln, sondern eher schwierige und ungeklärte Beziehungen aller Satzglieder untereinander, wenn Nebensätze wie alleinerzogene Kinder den Nachmittag alleine verbummeln zum Ende eines Absatzes. Das schnelle Tempo ist hart, kurz, auf den Punkt. Keine Relativkonstruktionen, eindeutige Verhältnisse, keine Gefangenen. Das ist zunächst einmal das einfache Verhältnis zwischen Geschehen und Erzähler, kompliziert wird es erst mit dem Leser durch mehrfache Synchronisierung. So ist es typisch für satirische und ironische Texte, dass der Erzähler mit dem Leser kollaborieren will, und wenn der Text gut ist, sind ihre Geschwindigkeiten exakt aufeinander abgestimmt. Es gibt auch die Situation, dass Geschehen und Erzähler auf die Eigenzeit des Lesers nicht die geringste Rücksicht nehmen, sehr krass bei Thomas Bernhard, aber auch bei Kafka findet man diese zerdehnten oder umgekehrt überhektischen Stellen. Selten, aber auch möglich, sind hohe gleiche Geschwindigkeiten von Ereignissen und Leser, denen ein Erzähler vergeblich hinterläuft, etwa bei Kleist.

Kosztolányis Erzähler ist eher ein Komplize des Lesers, der sich nicht plump anbiedert, sondern sich eben mit Beschleunigungen und Verzögerungen mit dem Leser in einen gleichen Takt bringt. Und das macht einen guten Teil dieser Ironie aus.

Detail: Seite 76: Das Ehepaar Vajkay liest Zeitung: "Zug fällt in Ohio von Eisenbahnbrücke. Zwei Tote und dreissig Schwerverletzte." Eine halbe Stunde Kampfgoogeln ohne Ergebnis. Sollte es jemand aus dem Publikum finden, gibt es eine Grosse Lobende Erwähnung. Der Roman spielt 1899, ich akzeptiere +/- 3 Jahre, +/- 3 Tote und +/- 10 Verletzte. Aber komme mir keiner mit Oregon oder Ottawa.


14.12.2007 / 07:37 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Romane, die sofort links abbiegen könnten (1-48)

Auf den ersten Seiten eines Romans werden so viele Entscheidungen getroffen, dass der Leser im Regelfall davon gar nichts mitbekommt. Wenn man zum erstenmal in die Küche geht, um eine Limonade zu holen, stehen schon die Hauptpersonen auf der Bühne, die Zeiten und Orte wurden unwiderruflich festgenagelt und die meisten Verhängnisse huschten schon durch einen Nebensatz. Nach dem Beginn, einer unsichtbaren Grenze, nach zehn Seiten haben wir schon gelesen, was wir auf den nächsten dreihundert Seiten lesen werden.


Oder auch nach rechts
Wenn Sie allerdings auf dem Sofa sitzen bleiben und kurz vor diesem unsichtbaren Taufpunkt innehalten, können Sie ausprobieren, was Sie aus dem Anfang noch machen können. Zum Beispiel eines Ihrer Kinderbücher. Kafkas Schloss lässt sich noch nach einigen Seiten problemlos in Die Jungens von Burg Schreckenstein umbauen. Die drei Fragezeichen lösen das Rätsel des Stechlinsees, Werther heiratet doch lieber Nscho-tschi und Stiller ist nicht Stiller, sondern Pippi Langstrumpf.

Oder Kosztolányis Anfang: Endlich Ferien! Die Tochter des Ehepaars Vajkay, genannt Lerche, darf eine Woche aufs Land fahren. Doch Lerche ist trotzdem unglücklich: die anderen Mädchen sind so schön, sie selbst aber so hässlich. Aber jetzt geht es endlich los. Beim Packen hätte sie fast ihre Zahnbürste vergessen! Alle drei sind ganz aufgeregt, als sie zum Bahnhof gehen. Mutter ermahnt Lerche: "Und iss keine Melonen. Und keinen Gurkensalat. Lerche, iss das ja nicht, auf gar keinen Fall." Als der Zug endlich losfährt, sinkt Lerche in ihren Sitz und fängt an zu weinen. Wenn sie doch nicht so hässlich wäre!

Das war jetzt bis Seite 23. Nun könnte der Roman noch ganz einfach zum Doppelten Lottchen abbiegen und Lerche nach ihrer Ankunft in der Puszta ihre Zwillingsschwester kennenlernen. Oder es könnte auch zum Mord im Orientexpress verzweigen. Oder Lerche reist einfach weiter um die ganze Welt und illustriert das von eigener Hand.

Aber nein, so wird es nicht weitergehen. Die Vajkays gehen traurig nachhause zurück. Eine Woche ohne Lerche, das wird schlimm, ahnen sie voraus.


Detail: "Vielleicht die erste Erwähnung von Gurkensalat in der grossen Weltliteratur," wollte ich schwadronieren. Blödsinn. Drei Minuten nachgucken: J.W. v. Goethe, C. Baudelaire, C. Dickens, Th. Fontane, W. Raabe, ganz zu schweigen von den Zeitgenossen T. Mann und F. Kafka, alle mit hohem Gurkensalatanteil in ihrer Prosa. Übrigens ist die Erwähnung von Gurkensalat, Kartoffelsalat oder Nudelsalat literarisch nahezu überschneidungsfrei, woraus zu schliessen ist, dass sich jeder Autor für Gurke, Kartoffel oder Nudel zu entscheiden hat.


11.12.2007 / 13:55 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

Dritter und letzter Prolog: Deszö Kosztolányi (0-0)

Deszö Kosztolányi wurde 1886 in Szabadka geboren, in einer Gegend, auf die alle paar Jahre grellrot "Neue Bewirtschaftung" draufgeklebt wird und die gerade zu Jugoslawien Serbien gehört. Die wesentlich bekannteren Sandor Marai und Antal Szerb gelten als Kosztolányis Nachfolger und stehen als Taschenbuchstapel neben Paulo Coelho.


Deszö Kosztolányi. Dieses Bild ist "Ez a kép közkincs, szabadon felhasználható", was hoffentlich heisst: gemeinfrei.
Die leichte Schlawinerhaftigkeit des Fotos täuscht nicht: Kosztolányi gehörte zur Budapester Bohème und brachte seine Zeit gerne in einem "Kaffeehaus" zu. Leider weiss ich trotz Recherche nicht genau, was ein "Kaffeehaus" sein soll. Es handelt sich ungefähr um einen analogen Vorläufer des Netzes, in dem die Webpages mithilfe eines Zeitungsstocks abgerufen wurden. Es gab dort auch einen "Wirt" (Admin?), bei dem man "anschreiben" lassen konnte, ich vermute, das ist eine frühe Form des Bloggens. Kein Wunder, dass diese analoge Bohème kaum etwas auf die Reihe bekommen hat. Ich erinnere zum Beispiel an den zu Recht völlig vergessenen Oscar Wilde, der mit einem haarsträubenden Roman reüssierte, in dem ein alter Sack sich im Chat als junger, süsser Boy ausgibt; wie oldschool ist das denn.

Viel mehr könnte ich über Kosztolányi berichten, wenn ich Ungarisch könnte, ein Ungar wäre oder eine Ungarin kennen würde. Die ungarisch-englischen Babelfische sind von grandioser Untauglichkeit, und so muss ich mich biographisch etwas behelfen. Er ist 1936 gestorben, und zwar "melyben Babits rehabilitálja fiatalkori barátját, művésztársát", also ich denke mal, an Fiatalkori. Oder mal sehen, was die anderssprachigen Wikipedien dazu meinen: "hän halusi olla yhtä aikaa kepeä ja syvällinen" behaupten die Finnen (Halluzinationen? Schwellungen?), die Holländer begnügen sich mit "Kosztolányi overleed in 1936", die Polen wollen erfahren haben: "Jego styl odznaczał się jasnością i czystością wyrazu", die Bulgaren melden lakonisch: "умира од рак на непцетo", den Japanern blieb sein Tod eher rätselhaft, "1936????????", und endlich, die Spanier, bringen ein wenig Licht hinein: "Muere en 1936 de un cáncer de laringe."


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