27.06.2010 / 00:42 / Viele lesen: Klagenfurttexte 2010

Iris Schmidt, "Schnee"


Foto: badkleinkirchheim, Quelle
Während alle auf die Autorin warteten, die gleich beginnen würde, ihren Text vorzulesen, beobachtete ich die ganze Szenerie von jenem Fernsehsessel aus, in dem ich seit vielen Jahren beinahe täglich sass und dachte, dass es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Textbesprechung in der Lesemaschine zuzusagen. Da fahren die ganzen Digitale-Bohème-Penner, die du nur aus dem Internet kennst, wie jedes Jahr wieder nach Klagenfurt und machen sich ein paar schöne Tage, und du blöde Sau sitzt in deinem Büro am Donnerstag und am Freitag und kannst dir das nicht mal als Livestream oder auf dem Fernseher anschauen, Freitag hast du zwar früh aus, aber Aleks Scholz liest schon um 12.00 Uhr, das ist nicht zu schaffen, der Nachmittag dagegen theoretisch schon, aber dann läuft ja auch WM, die interessiert dich viel mehr als der ganze Literaturquatsch. Der interessiert dich zwar auch, aber jetzt nicht so sehr, dass du dir zwei Tage Urlaub nehmen würdest, um das anschauen zu können, wie du es jedes Jahr bei den Bergetappen der Tour de France tust, die auch immer ganztags übertragen werden bzw. eigentlich wurden, man muss hier ja die Vergangenheitsform verwenden, seit die total verkommenen Öffentlich-Rechtlichen ihr Gutmenschentum entdeckt haben und glauben pflegen zu müssen, dachte ich auf meinem Fernsehsessel.
Leichtfertig zugesagt hatte ich das vor einigen Wochen schon, die Besprechung eines Textes zu übernehmen, und dann die plötzliche Erkenntnis, WEDER Fussball NOCH den Literaturkram gucken wird es am Freitag nachmittag werden, nein, da ist ja noch das Schulfest von den Kindern, und du hast dich eingetragen zum Getränkeverkauf, weil du scheel angesehen wirst, wenn du dich nicht einträgst in die Listen, können die einen nicht wenigstens eingangs des Wochenendes in Ruhe lassen, wem nutzt so ein Schulfest, für die Eltern ist es eine Plage, dachte ich auf dem Fernsehsessel, die Kinder haben auch nichts davon, sehen sich ja die ganze Woche, ausserdem ist es ihnen eh viel zu warm und am Ende taumeln sie mit Sonnenstich über den Pausenhof, eine Unverschämtheit und Zumutung für alle Beteiligten, Ausfluss längst überkommener Konventionen, im Grunde genommen vergleichbar dieser lächerlichen Veranstaltung in Klagenfurt. Macht der "Kastenbrotkopf" (Tex Rubinowitz) eigentlich heuer auch die Moderation, hatte ich überlegt. Keine Chance, das herauszufinden bis Samstagmorgen, keine Sekunde von dieser Talentezertrümmerungsveranstaltung wirst du gesehen haben bis Samstagmorgen.
Samstag, der Tag, an dem du dich normalerweise langmachen kannst, "Brötchen mit Kaffee und bei Musik die Zeitung lesen" (Truck Stop), dann irgendeine sinnentleerte manuelle Tätigkeit zum Runterkommen und Rauskommen aus der Werktagsmühle, die Küchenkräuter auf dem Balkon hätten schon lange gepflanzt sein wollen, auch ein Teilwasserwechsel im Aquarium stünde an, aber du Narr musst dich dazu eintragen, einen Klagenfurttext zu besprechen in der Lesemaschine, und die verdammte calvinistische Arbeitsethik hindert dich daran, darauf zu scheissen und stattdessen die besagten Verrichtungen zu tätigen oder dich sogar einfach in der Buga an den See zu legen bei dem grossartigen Wetter, obwohl es natürlich eigentlich auch schon wieder zu heiss ist und die verdammte Sonne zu stechend, braun bist du ja auch noch nie geworden, sondern hast immer zuverlässig, jedes Jahr aufs Neue, erstmal einen fetten Sonnenbrand gekriegt, besonders früher im Freibad, Hautkrebs soll das ja zwangsläufig auslösen im Alter, dachte ich auf meinem Fernsehsessel.
Und dann hatte ich mich überhaupt nur eingetragen in dem Irrglauben, die Texte würden vorab veröffentlicht und ich könnte meine Rezension auf Halde verfassen, dachte ich auf meinem Fernsehsessel, nur um später beiläufig zu erfahren, dass dies nicht der Fall sei und die Aussicht, im Vorgriff sich schon etwas überlegen zu können, damit entfiele. Also wenigstens vorab etwas zum Autor recherchieren und das gefilmte Autorenporträt in den Dreck ziehen könntest du ja, hatte ich überlegt, und dann wird auf den von mir reservierten Termin eine Iris Schmidt gelegt, die ausgerechnet auf ihren Autorenporträtfilm verzichtet hat. Und den Versuch, eine Iris Schmidt zu googeln, konntest du auch gerade in die Tonne kloppen, dachte ich auf meinem Fernsehsessel, geht es denn noch gemeiner, Karl Müller oder Petra Maier vielleicht. Bei Amazon nicht anders, Iris Schmidt: "Händedesinfektion im Gesundheitswesen", das wird nicht von ihr sein, ebenso der "Praxisratgeber Saluki", ein Sachbuch über Windhunde. Obwohl, Windhunde, hihi, da kann sie sich mit Aleks Scholz highfiven, der sich in seinem Autorenportät in Dublin vor eine Hunderennbahn gestellt und allen Ernstes davon schwadroniert hat, dass es auf den Schwanz nicht ankommt, oder so ähnlich.
In der Strassenbahn hatte nach langer Zeit der Ruhe ausgerechnet gestern wieder einmal für die vollen zwanzig Minuten Fahrt der Alte neben mir gesessen, der unablässig auf sein Gebiss einknistert, Jörg Berger ist gestorben und die Tage werden auch schon wieder kürzer, ein halbes Jahr lang, und du sollst hier eine Textbesprechung fabrizieren, dachte ich auf meinem Fernsehsessel. Warum schreibst du, um diese verheerende Dummheit der Zusage auszubügeln, nicht einfach in den Internbereich der Lesemaschine, dass du den Termin verwechselt hast und dich jetzt leider mit einer Migräne ins Bett legen musst, dachte ich auf dem Fernsehsessel. Der bereits vor Tagen gesichtete Lebenslauf neben dem fehlenden Autorenfilm hatte mich ja positiv eingenommen für Iris Schmidt, dachte ich auf dem Fernsehsessel, nach all den Leichenwäschern, Krankenhausclowns; Totengräbern und Astronomen mal jemand mit einer soliden Ausbildung als Industriekauffrau, dann Wechsel in die Gemeinwesenarbeit in einem sozialen Brennpunkt, wenngleich der Eindruck durch die "Judotrainerin (1. Dan)" wieder leicht getrübt worden war. Und dann sass ich um Punkt Elf in meinem Fernsehsessel an jenem Samstagvormittag und hatte auf 3Sat gezappt, Punkt Elf, aber auch keine Minute früher, die Geschirrspülmaschine war noch einzuräumen gewesen. Eingekauft für den Samstagabend hatte ich auch noch nicht, ein lieber Gast kommt zum Kochen, Salzmanteldorade soll es geben und als Nachtisch Mohr im Hemd, und ob es am Samstagnachmittag noch halbwegs akzeptable Doraden zu kaufen geben würde, wagte ich doch, hier auf meinem Fernsehsessel sitzend, stark zu bezweifeln.
Begrüssung durch eine Frau, aha, da haben sie den Kastenbrotkopf also abgesägt, und Nüchtern sieht auch anders aus und heisst anders, dachte ich auf meinem Fernsehsessel. Iris Schmidt dagegen sieht aus wie Gabriele Wohmann, hat sich von Kathrin Passig ein T-Shirt geliehen nebst im Schnee verirrtem Geschichtenpersonal und liest eine Gruselgeschichte. The shining goes Mittelgebirge, Nagetiere treten auf, am Ende frage ich mich wie der eine Juror, warum die beiden nicht ins Auto von Karl Müller eingestiegen sind. Vergleichsmöglichkeiten zu den übrigen gelesenen Texten fehlen mir, die komplette Zernichtung (Sascha Lobo) der Iris Schmidt durch die Jury kommt deshalb unvorbereitet, und plötzlich weiss ich, warum ich mir das nicht anschauen konnte und kann, eine einzige Erregung über diese affektierte Jury, gleich ob sie recht hat oder nicht, kommt in mir hoch, nichts ist mir widerwärtiger als diese arroganten Laffen, diese armen Gestalten in ihren Jackets, die sich selbst so gerne produzieren und reden hören, allein schon der Habitus hatte mir ja Übelkeit verursacht, obwohl vielleicht schlicht dahintersteht, dass sie gestern abend gesoffen haben und jetzt früher in die Pause wollen. Iris wird jedenfalls keinen Preis gewinnen, soviel ist sicher, o.k., vielleicht drückt sie als Rache für die Demütigung Spinnen ("Gladbachfan") draussen eine rein, die gut bemuskelten Oberarme dazu hatte sie (Judolehrerin, 1. Dan) ja augenscheinlich, dachte ich auf meinem Fernsehsessel.
Das Ding ist früher zu Ende als geplant, ich muss die Kinder vom Sofa scheuchen, wo sie sich schon wieder eingerichtet und aufs Kinderprogramm gezappt haben, raus auf den Hof Waveboardfahren, bewegt euch, damit ihr nicht zu kleinen Fleischanderln werdet, ich selbst hacke nur schnell die Besprechung ins Notebook und dann nichts wie raus aus dem Fernsehsessel, sofort, denke ich, in die Innenstadt fahren und die übriggebliebenen Restdoraden besorgen für das Abendessen, gleich und sofort und gleich und gleich, bevor es zu spät ist.

7 von 14 Autoren


Kommentar #1 von Kalfater:

Der Sound einer neuen! Generation! Kündigt! Sich an! Volker – Jahr! Ein Text wie! Ein Text! Vielen: Dank!

27.06.2010 / 08:35

Kommentar #2 von Moosbrugger:

...dachte Kalfater, kommentierte, schrieb, teilte er uns mit, naturgemäss...

27.06.2010 / 10:28

Kommentar #3 von Volker Jahr:

Ich wurde heute vormittag darauf aufmerksam gemacht, dass mir im Text eine Gabriele-Wohmann-Christa-Wolf-Verwechslung unterlaufen ist. Das stimmt, sorry!

28.06.2010 / 11:59