28.12.2008 / 23:07 / Ruben Schneider liest: Struktur und Sein (Lorenz B. Puntel)

Der Weltsatz (51-54)


Das Sein als allumfassende Struktur.
(Bild: pagedooley, Lizenz.)
Die Seiten 51 bis 54 scheinen mir ganz besonders knackig zu sein für das Verständnis der struktural-systematischen Philosophie (SSP). Wie bereits mehrfach erwähnt, wird jede Kluft (gap) zwischen der Dimension der Theorie und der Dimension der Wirklichkeit abgelehnt. Aber wie hängen beide in der SSP überhaupt genau zusammen?


Zum Verhältnis von Theorie (Denken, Geist) und Wirklichkeit (Sein, Realität) gibt es zwei dicke, fundamentale Positionen: Realismus und Antirealismus.

Der Realismus behauptet, dass es eine fertige geistunabhänige Welt gibt (eine "ready-made world"), die von unseren wissenschaftlichen Theorien abgebildet wird. Diese objektive Realität macht jede sinnvolle Behauptung entweder wahr oder falsch. Vom Standpunkt eines idealen, perfekten Denkers aus kann man eine absolute wahre Theorie bilden, die die Welt so beschreibt, wie sie in echt ist (auch wenn dieser ideale Standpunkt ausserhalb menschlicher Reichweite ist).

Der Antirealismus dagegen lehnt die These einer ready-made world, die vom Denken abgebildet wird, ab. Unser Geist strukturiert sich die Welt nach seinen subjektiven Gesetzen, wir erkennen die Welt nur, wie sie für uns erscheint und nicht, wie sie in echt ist. Es gibt keinen absolut objektiven, idealen Standpunkt, von dem aus man die Welt erkennen könnte, wie sie wirklich ist. Eine Theorie ist dann wahr, wenn sie den menschlichen Anforderungen genügt (Vorhersagen treffen ein, intersubjektive Nachprüfbarkeit, etc.). Wahrheit ist also relativ zum Menschen.

Die SSP ist offenbar schwer einer von beiden Positionen zuzuordnen. Es ist klar, dass die SSP keinen Antirealismus vertritt: Es wird kategorisch abgelehnt, dass das theoretische Wissen abhängig von Subjektivität und die Wirklichkeit für unser wissenschaftliches Erkennen prinzipiell unerreichbar ist. Denn das wäre eine inkohärente Kluft zwischen Denken und Sein. Dennoch ist die SSP kein voller Realismus: Für den knallharten Realismus bleibt ebenfalls eine Kluft zwischen Denken und Sein, denn alle Denker bis hin zum perfekten Denker stehen der Wirklichkeit gegenüber – die Wirklichkeit steht ausserhalb des Denkens und wird vom Denken abgebildet. Krass gesagt: Sogar für Gott kann es Fakten geben, die er nicht kennt, die Wirklichkeit ist schlechthin unabhängig von seinem Denken. – Für die SSP dagegen sind die Dimension des Denkens (= die Dimension des Theoretischen und der Strukturen) und die Dimension der Wirklichkeit im Letzten identisch. Die Wirklichkeit selbst ist Strukturalität, sie ist das Netzwerk aller Strukturen bzw. die vollständig gesättigte, allumfassende Struktur selbst. Das Universum ist die perfekte Proposition (eine Art "Weltformel" oder Weltsatz, der absolut alle Strukturen des Universums ausdrückt). Das Wesen der Welt ist ihre umfassende Denkbarkeit und ein umfassender Denker steht der Welt nicht gegenüber: Der universale, perfekte Denker und die Wirklichkeit fallen in eins.

Und wieder frage ich: Wer in Gottes Namen denkt denn da? Und ist das nicht alles eine Art objektiver Idealismus?

54 von 687 Seiten

Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (3) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Hendrik Schneider:

Das ist interessant und anregend zu lesen, danke dafür vorweg.
Die Frage, wer denn da denkt, scheint Puntel ja elegant umschiffen zu wollen. Soweit ich die Einleitung verstehe, ist eine seiner wichtigsten Thesen, dass theoretische Aussagen die Form haben "Es verhält sich so dass ..." (S. 18 und 23), und nicht etwa die (explizite oder implizite) Form: "Subjekt S glaubt/erkennt (weiss) dass ...". Nimmt man das noch zusammen mit seiner These, "dass Sätze der Subjekt-Prädikat-Form für eine philosophische Sprache nicht akzeptabel sind" (S. 19), nämlich weil sie eine Substanz-Ontologie implizieren, dann könnte man daraus eine strikte Gegenposition zu Hegels in der Vorrede zur Phänomenologie formuliertem Programm sehen, "dass das Wahre nur als System wirklich, oder dass die Substanz wesentlich Subjekt ist". Objektiver Idealismus in diesem Sinn wird es also nicht sein, was Puntel da versucht, und er will ja auch ausdrücklich kein System aufstellen und findet deutliche Worte für den Grössenwahn, der so manches historische System motiviert habe. Warum aber hält er dennoch daran fest, die Philosophie müsse systematisch verfahren und nicht fragmentarisch oder bloss historisch, was nun wieder ein hegelsches Motiv ist: Philosophie dürfe nicht nur "Geschichten erzählen"?
Und die Frage, wer oder was denn da denke, lässt sich ja auch nicht so leicht durch den Hinweis beruhigen, ihre Subjekt-Prädikat-Form setze eine (irreführende) Substanz-Ontologie voraus. Bin gespannt, wie Puntel das im Detail durchführt, werde mir das Buch mal besorgen.

30.12.2008 / 01:43

Kommentar #2 von Ruben:

Alan White hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass man sagen kann, dass es die absolut-notwendige Seinsdimension (Kap. 5.3) ist, welche die absolut umfassende Theorie von allem denkt und artikuliert, weil sie sich selbst artikuliert und alles andere Sein umfasst und trägt. Aber dies steht so nicht explizit in "Struktur und Sein". Das Thema der absolutnotwendigen Dimension kommt aber erst richtig in Kapitel 5.

30.12.2008 / 03:42

Kommentar #3 von Hofnarr:

Es scheint so viele philosophische Sichten [auf die/Meinungen zur der] Realismusfrage zu geben, dass ich sie kaum auseinanderhalten kann.
Puntels Position wird bisher jedenfalls noch an keiner einschlägigen Stelle (wikipedia etc) aufgearbeitet?
Insofern bin ich gespannt, ob seine Theorien sich als etwas Neues, oder eher Altbekanntes herausstellen ...

18.05.2009 / 08:28