09.12.2008 / 22:01 / Ruben Schneider liest: Struktur und Sein (Lorenz B. Puntel)

Der Mann ohne Eigenschaften (1-28)


Love and hate are just the same side of a different coin, the boardroom and the bedroom are just two sides of the same agenda, semantics and ontology are two sides of the same coin...
Ich weiss, dass ein paar Freunde sich das dicke Puntelbuch gekauft haben und es auch lesen wollen. Also muss ich mich hier zusammenreissen und darf keinen Unfug schreiben. Aber schon allein durch das Vorwort musste ich mich mehrmals durchlesen, bis ich mit dem Text klargekommen bin. Deshalb vorab schonmal eine Klarstellung: Das hier kann diesmal wirklich kein Zusammenfassungsservice werden. Dafür bin ich zu unbedarft und der Inhalt ist zu komplex. Ich kann lediglich versuchen, in einfachen Worten hinzuschreiben, was einige Grundintuitionen des Textes sind, damit es mir und anderen die Lektüre erleichtert.

Ein fundamentaler Gedanke lässt sich vielleicht so hindrehen: Seit der Neuzeit ist eine Sache für die Philosophie ganz und gar massgebend, nämlich die Kluft zwischen Denken und Wirklichkeit. Ist die Welt wirklich so, wie wir sie uns zurechtdenken? All unser ausdrückliches Denken und unser ausformuliertes Wissen ist in Sprache gefasst – aber ist unsere Sprache überhaupt adäquat für die Erfassung der Wirklichkeit? Und können wir das überhaupt jemals wissen? Um nachzusehen, wie die Welt unabhängig von unserem Denken in echt aussieht, müssten wir aus Denken und Sprache komplett aussteigen. Und eben das geht nicht. Es wäre völlig sinnlos, etwas beschreiben zu wollen, wie es unabhängig von jeder Beschreibung ist – denn im selben Moment beschreibt man es ja wieder. Man kann angesichts dieses Problems jetzt folgende Position beziehen: Man sagt, es ist sinnlos, über die Welt jenseits unserer Sprache nachzudenken. Unsere Sprache sagt nichts über die Wirklichkeit, wie sie an sich (in echt) ist, sondern nur, wie sie für uns ist. Wenn niemand an den Tisch denkt, an dem ich gerade sitze, existiert er zwar als ein komplett unbekanntes x weiter, aber nicht in seiner Eigenschaft als Tisch. Man nennt diese Position "Antirealismus". Ein typischer neuzeitlicher Vertreter dieser Position ist Immanuel Kant.

Oder aber man sagt wie Aristoteles und Thomas von Aquin: Das, was die Sprache strukturiert, ist dasselbe, was auch die Welt strukturiert. Beide haben an derselben Form teil: Die Form eines ordentlich nach allen wissenschaftlichen Kriterien durchgetrimmten wahren Satzes entspricht genau der Form des angesprochenen Sachverhalts draussen in der Welt. Diese Position heisst "Realismus". Die Grundstruktur der Sprache entspricht also der Grundstruktur der Welt. Für Aristoteles lautet die Grundstruktur der Sprache: Etwas wird von etwas ausgesagt. Z.B. "Bud Spencer ist fett". Es gibt also in der Welt Einzeldinge wie Bud Spencer, von denen andere Dinge ausgesagt werden, die auch mehreren Einzeldingen zukommen können (allgemeine Eigenschaften wie Fettleibigkeit). Die Annahme, dass es ganz grundlegend in der Welt Eigenschaften ("Akzidentien") und Eigenschaftsträger ("Substanzen") gibt, ist also eine sogenannte ontologische Implikation der Sprache. Die Sprachanalyse des Aristoteles impliziert eine "substantialistische Ontologie".

Nun gilt auch für Lorenz Puntel: Die Grundstruktur der Sprache ist dieselbe wie die Grundstruktur der Welt: "Semantik und Ontologie einer philosophischen Sprache sind grundsätzlich zwei Seiten ein und derselben Medaille" (S. 8). Es ist komplett absurd, zu behaupten, die Welt sei nicht sprachlich-gedanklich ausdrückbar (in Fachworten: nicht intelligibel). Denn woher will man das wissen? Wie will man von einem völlig unerkennbaren Ding überhaupt wissen, dass es völlig unerkennbar ist (man müsste ja wenigstens dies erkennen)? Durch Erleuchtung? Allerdings hält Puntel normale Wissenschaftssprache für inakzeptabel, denn sie impliziert wieder, dass es komplett nicht-intelligible Sachen gibt: Nämlich die Eigenschaftsträger. Was sollen die denn hinter allen Eigenschaften sein? Ohne Eigenschaften kann man überhaupt nichts über sie aussagen, sie sind wieder dieses völlig unbekannte x (wie der Mann ohne Eigenschaften – wie soll man den ohne seine Eigenschaften beschreiben?). Durch die Ontologie, die Eigenschaftsträger annimmt, wird also hintenrum eine letzte Kluft zwischen Denken und Wirklichkeit beibehalten.

Also braucht es eine andere Sprache mit einer anderen Semantik, die eine andere Ontologie impliziert. Und hier kommt Puntels Hauptthese ins Spiel: Alles ist Struktur. Das Wesen der Welt besteht in ihrer Denkbarkeit und Offenheit für Repräsentation durch Sprachstrukturen gemäss dem alten scholastischen Axiom: omne ens est verum (frei übersetzt: Alles Seiende ist erkennbar). D.h., es gibt keine Strukturen, die in keiner möglichen Sprache ausgedrückt werden können. Wenn man etwas nicht ausdrücken kann, dann liegt das nicht an der Welt, sondern dann ist unsere Sprache zu schwach und wir brauchen eine bessere. Später im Buch wird dann explizit eine passende Semantik dafür entwickelt, so dass die Philosophie wenigstens in den Grundzügen einfach schlichtweg alles in den Griff bekommt, was es überhaupt gibt (das "uneingeschränkte universe of discourse").

28 von 687 Seiten

Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (2) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von RKS:

Als solide Startposition leuchtet mir diese Argumentation auch ein. Ihre Ausführungen lassen an stilistischer Klarheit und an Plausibilität, zumindest auf den ersten Blick (prima facie heisst das wohl) nichts zu wünschen übrig. Ich freue mich auf die Fortsetzung, lieber Ruben Schneider.

15.12.2008 / 17:49

Kommentar #2 von wortwelt:

hui – da klickt man ein Mal auf die Lesemaschine und schon bekommt man etwas serviert, das sogar mit dem eigenen Studium zu tun hat.
Muss gleich mal gucken, ob das Buch bei uns in der Bibliothek auszuleihen ist.

26.12.2008 / 01:40