21.05.2008 / 15:31 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Transzendente Trademark (133-137)


Potenzielles Ende der III. Meditation. (Bild: adamsguns.)
Der radikale Zweifel ist kein Müssiggang. Mit Monsieur Descartes sitze ich nun schon seit Monaten bei Rotwein und Rauchwerk in meiner Studierstube und versenke mich in die Subtilitäten seiner Meditationen. Langgezogene Sinnweben haften zwischen mir und meinem Schreibtisch, Neurodermitis und quälende Rückenschmerzen peinigen mein kümmerliches Dasein, niemand lädt mich mehr zu Festen ein. Der universale Zweifel ist ein umfassender asozialer Mangelzustand, er muss dringend aufhören.

Ich könnte mir meine halbautomatische Browning an die Schläfen führen und mir eine Ladung Metall durch die Frontallappen treiben, aber das wäre dann schon eine Art von Resignation. Mir könnte auch einfach alles egal sein, ich regle meine Ansprüche mehrere Evolutionsstufen weiter runter, dann bin ich zufrieden wie ein Geisseltierchen in der Ursuppe. Derartiges Wegducken wäre mir jedoch zu spiessig. Der Zweifel ist leider da und jetzt rücke ich ihm direkt auf die scheussliche Pelle: Ich erfahre ihn offensichtlich als Mangel, das heisst er trägt den Vergleich mit etwas Besserem in sich, welches mir abgeht: Besser wäre es, Gewissheit zu haben als in der höchst peinlichen Situation vor sich hinzudarben, dass man möglicherweise in einer virtuellen Matrix lebt, in der selbst beste Freunde nur hohle Phantomgestalten sind. In meinem Zweifel und meinen existenziellen Bedürfnissen erfahre ich unverblümt meine Begrenztheit und Endlichkeit. Ein Wesen mit unbegrenztem Erkennen zweifelt nicht. An dieser elementaren Erfahrung des Mangels selbst wird der Zweifel jedoch ersticken:


Endliche Seiende, schwebend im unendlichen Sein. (Bild: venkane, Lizenz.)
Der Mangel ist ein Weniger in Relation zu einem Mehr. Damit aber eine Relation bestehen kann, müssen ihre Relata existieren. Eine Relation zu nichts ist keine Relation. In welcher Weise existiert aber jetzt dieses Mehr gegenüber meiner Begrenztheit? Ist es eine rein gedankliche Projektion? Ich kann mir natürlich immer irgendetwas Grösseres und Besseres vorstellen, aber meine Vorstellungen bleiben dauernd in irgendeiner Hinsicht begrenzt, egal wie weit ich sie treibe, weil mein Geist einfach nicht in jeder Hinsicht unbegrenzt ist. Es mag zwar ein open end meiner Vorstellungskraft geben, aber sie wäre – in klassischer Terminologie gesprochen – stets nur potenziell unendlich: Potenziell Unendliches (das indefinitum) ist ein blosses "immer-weiter-so", eine immer weiter hinausgetriebene Grenze, aber es ist eben auf jeder Stufe nochmal überbietbar und damit begrenzt: Auch eine immer weiter aufgeblähte Endlichkeit bleibt endlich. Das sogenannte 'aktual Unendliche' (das infinitum) hingegen ist in Wirklichkeit auf einen Schlag und in jeder Hinsicht vollkommen unendlich und unüberbietbar. Keine einzige meiner Vorstellungen ist von dieser Art, keine kann jemals jenes Mehr sein, in Vergleich zu welchem meine wie gross auch immer aufgepumpte Begrenztheit schlechthin ein Weniger ist:
Meine prinzipielle Begrenztheit überhaupt erkenne ich nur durch Vergleich mit etwas prinzipiell Unbegrenzten: Wenn ich in meiner abgeschlossenen Gedankenblase hocke, erkenne ich ihre Abgeschlossenheit gar nicht, wenn es nicht ausserhalb ihrer auch etwas gibt, wogegen sie abgeschlossen ist. Dieser "Aussenbereich" kann zwar auch wieder eine weitere abgeschlossene Blase sein, und diese wieder in einer grösseren Blase, usw., dieses Spiel kann potenziell endlos weitergetrieben werden. Aber all diese potenziell unendlich vielen abgeschlossenen Blasen müssen innerhalb einer völlig und in jeder Hinsicht unabgeschlossenen Grundblase existieren: Dem aktual Unendlichen, dem absoluten Sein, Gott.1


Tiefergelegtes Argument. (Bild: willvision, Lizenz.)
Das ist meines Erachtens das ganze Tiefenargument des cartesischen Gottesbeweises.2 Zum einen birgt der radikale Zweifel das Wissen um die Existenz des endlichen Ich in sich ("Ich zweifle, also bin ich"), zum anderen enthält er implizit das Wissen um die Existenz eines schlechterdings unendlichen Hintergrundes, vor dem das Ich überhaupt als endlich und mangelhaft erfasst werden und somit der Zweifel anheben kann. Der cartesische Beweis beleuchtet eine Grundstruktur des endlichen Geistes als solchen: Er trägt in sich selbst schon den Verweis auf ein unendliches Sein.3 Gott hat, wie Descartes schreibt, dem menschlichen Geist seine trademark eingeprägt, und diese trademark ist nicht vom Produkt selbst verschieden: Der Geist als Ganzer ist die Signatur Gottes (III. Med., Reclam S. 133, Nr. 38). Indem der Geist auf sich selbst und seine gesamte Endlichkeit reflektiert, ist er bereits beim Unendlichen und Absoluten.

Mit dem Unendlichen enden nun endlich auch die III. Meditation und der universale Zweifel. Ich weiss jetzt: Ich bin nicht mehr allein in der Welt. Wenigstens Gott ist auch noch da. Und drei weitere Meditationen. Bis zu diesen gehe ich jetzt aber ein Bier trinken.

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1 Der unendliche Bereich ist hier auch nicht einfach eine ausdehnungsmässige (quantitative) Unendlichkeit wie das Universum, denn beim jetzigen Stand der Meditationen sind wir noch nicht so weit, dass die Existenz des materiellen Universums bewiesen ist (und für Descartes ist Ausdehnung das Wesensattribut der Materie), das geschieht erst in der 6. Meditation. Es geht hier um die Endlichkeit meines Denkens und Seins. Beide sind nicht etwas Ausgedehntes (Quantitatives), sondern etwas Qualitatives, auch wenn hier der Anschaulichkeit halber quantifizierende Bilder dafür benutzt werden.

2 Descartes lässt das Tiefenargument z.B. in III. Med., Nr. 24, S. 121/122 (Reclam) anklingen. Ausformuliert ist es eine Art transzendentale Reduktion, ein Aufweis der Möglichkeitsbedingungen des endlichen Denkens überhaupt.

3 Das entspricht dann ganz den klassischen Gottesbeweisen, welche sagen: Gott ist das subsistierende Sein selbst, das "esse ipsum subsistens".

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Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (3) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von RKS:

Kompliment: Ein wahrhaft schöner Text, an französischer clarté nicht zu überbieten. Ich möchte ihn erst einmal so richtig in mich aufnehmen und mir – wenn möglich – assimilieren.
Ungeschützt gesagt, also aus dem Bauch heraus: Sie wollten dem Denkgenie Descartes auf seinem ureigendsten Reflexionsniveau begegnen, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich spüre aber, auch wenn Sie bewusst und gekonnt moderne Termini vermeiden, sich höchstens einmal – zur Verdeutlichung des Gemeinten – eine jargonhafte Anspielung, einen Alltagsslang, gönnen, wenn Sie also tapfer Begriffe wie Selbstreferenz und Fremdreferenz vermeiden, weil so etwas dem Descartes fremd war, denn "wabern" in Ihrer blitzblanken Argumentation "wolkige" Ausdrücke, die man sich vorknöpfen könnte (und müsste), um zu sehen, ob Sie wirklich noch "rein" und "unbefleckt" sich in der Denkwelt des 17. Jahrhunderts befinden.
Ich muss jetzt leider weg. Ich drucke mir den Text aus und nehme ihn mit, weil er mir so gut gefällt. Geniessen Sie Ihr Bier (und tun Sie sich, bitte, nichts an); ich melde mich wieder.
Bis dahin: Gelassen jucken lassen.

21.05.2008 / 17:02

Kommentar #2 von Ruben:

Vielen Dank für das Lob. Sie haben natürlich recht, hundertprozentig kann ich nicht in der Denkwelt des 17. Jahrhunderts bleiben, es fliessen ein paar Dinge ein, die nicht im Grundtext stehen. Ich versuche aber, so nah wie möglich am Text zu bleiben und zu schauen, was sich implizit noch an Gedanken aus ihm heben lässt.
Sie dürfen und sollen natürlich hier selbst weiterdenken und das mit allen anderen Autoren und Begrifflichkeiten, die Ihnen zum Thema angemessen erscheinen, auch kritisch. Dafür mache ich das Ganze. Ich will sozusagen eine Grundauslegung bieten, die zeigt, was da meiner Meinung nach drinsteht, als Basis für weiterführende Gedanken. Sapere aude – Philosophie ist keine Abspeisung mit Fremdgedanken, sondern Selbstdenken (natürlich im vorurteilsfreien Hinhören auf das, was andere schon gedacht haben).

21.05.2008 / 18:18

Kommentar #3 von Ruben:

P.S.: Die Einwände und Erwiderungen zu Descartes Lebzeiten in der grünen Meiner-Buchenau-Ausgabe sind übrigens wirklich sehr lesenswert. Da steht schon fast alles drin, was jemals an schwerwiegenden Einwänden gegen die Meditationen erhoben wurde – und nicht immer weiss sich Descartes da ganz zu helfen in den Antworten, habe ich den Eindruck (wie z.B. hier bei der ganzen Diskussion um den Zirkelvorwurf und den Voluntarismus, die ich in den letzten Beiträgen breitgewalzt habe... Descartes geht irgendwie nicht richtig darauf ein. Ich hoffe, ich habe plausibel machen können, dass sich aus Descartes eigenen Gedanken heraus die Einwände dennoch ganz gut abschmettern lassen. Vielleicht muss ich nochmal alle Stellen mit den Einwänden zusammensuchen und angeben, das ist recht verstreut im Buch...).

21.05.2008 / 18:25