11.02.2008 / 15:30 / Oliver Schweinoch liest: Besuch in Deutschland (Hannah Arendt)

Broders Vorwort (7-21)


Mülleimer (Detail), Oldenburg, 2007
Mir wurde berichtet, dass es auf vielen Bahnhöfen bereits Mülleimer mit drei separaten Behältern gebe. In Oldenburg, dem Sitz des Hannah Arendt-Zentrums, ist das noch nicht der Fall – was man allerdings auf diesem Foto nicht erkennen kann.
Ich musste an ein Erlebnis auf einem Recyclinghof der Berliner Stadtreinigung denken, als ich Henryk M. Broders Vorwort zur Neuausgabe 1993 von Arendts Bericht las. Die Beschreibung der Geschehnisse war mir glänzend gelungen, als ich mir eingestehen musste, dass sie Broders Polemik keineswegs entkräftet. Nicht um eine zaghafte Missachtung der Mülltrennung geht es ihm. Ihm geht es um die Regeln. Mein vorsichtiges Aufbegehren gegen diese, dem letztlich ihre Akzeptanz innewohnte, denn sonst wäre ich ja gar nicht erst zum Recyclinghof gefahren (um Sabotage ging es nicht), widerspricht Broders Ansicht sicher nicht.

In seiner Einleitung behandelt er die sogenannten Wendejahre, eine Illustration dessen, was im Klappentext behauptet wird: "Arendts Betrachtungen bezeugen heute – in der zweiten Stunde Null einer die Teilung überwindenden Bundesrepublik – eine geradezu verblüffende Aktualität." Broder war irritiert, als er vor 15 Jahren am Augsburger Bahnhof der dortigen Mülltrennung gewahr wurde. Dort gab es vier separate Müllbehälter: je einen für Dosen, Glas, Papier und Restmüll. Er überlegte, was Hannah Arendt dazu eingefallen sein könnte: "... da war doch mal was, was war es nur? Hier ein Stapel Schuhe, da ein Berg Brillen, etwas weiter ein Haufen Haare." Ein unfairer Vergleich, meint auch Broder, doch sei er richtig, denn es komme nicht auf die jeweilige Massnahme an, "sondern auf das Repertoire, den Einfallsreichtum der deutschen Analität". Es dauert nicht lange und Broder bescheinigt den Deutschen nach 1989 – ähnlich wie Arendt nach 1945 – Realitätsverweigerung. Zwar sei "Bautzen gemessen an Auschwitz ein Erholungscamp" gewesen, die Struktur der Entschuldigung und Rechtfertigung jedoch sei die gleiche. Um die Parallelen der ausbleibenden Aufarbeitung zu unterstreichen, fährt er mittlerweile fast vergessene Personen wie de Maizière und Perschau auf, bringt "Frau Caroline und die Tampax-Beraterin" ins Spiel, an die ich mich überhaupt nicht erinnern kann, daher auch gar nicht verstehe, was die da zu suchen haben, und kanzelt im weiteren Verlauf seines Vorworts Günter Gaus, George Tabori und Dorothee Sölle ab. Man wird Zeuge einer Auseinandersetzung über soziale Nischen, Verrat und die Verwechslung von Bekehrung mit dem Mangel an Gelegenheit, weiterzumachen, die heute seltsam weit weg erscheint. Wie 1949 würden 1993 aus Tätern Opfer, die Geschichte auf den Kopf gestellt und aus Realität eine blosse Möglichkeit (es hätte auch anders kommen können). Das mag so richtig sein wie die Vermutung, dass jeder Vergleich irgendwann anfängt zu hinken; für meine weitere Lektüre werden etwaige Entsprechungen hinsichtlich der sogenannten ersten und zweiten Stunde Null keine Rolle spielen.

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Oliver Schweinoch / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von R.K.S.:

Selbstverständlich darf ein jeder kritisiert werden, auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit, schon allein deswegen, weil man eben alles, was irgendwo, irgendwann, irgendwie eine(r) sagt, auch gegenbeobachten kann; anders: Alles Gesagte kann eben auch anders gesagt werden. So weit, so gut; nur:
Wer sich, mit welchen Motiven auch immer, den Henrik M. Broder vorknöpft, der sollte beim Kritisieren nicht aus den Augen verlieren, welche Verdienste dieser Mann, Mensch und Schreiber sich schreibend erworben hat, wenn es darum ging, das Denken der Nachkriegsdeutschen immer in die richtigen und gerechten Vergleichsproportionen zu rücken.
Man kann sich bei diesem Geschäft nämlich sehr schnell als bornierter Kleingeist erweisen.

11.02.2008 / 22:23