15.01.2008 / 01:15 / Jochen Schmidt liest: Liebe als Passion (Niklas Luhmann)

Attributionskonflikte (41-45)


Er wollte mir immer nur vorlesen
"Zur theoretischen Einleitung in die folgenden historischen Studien brauchen wir ein weiteres Kapitel." Lange machen wir diese Hinhalte-Taktik aber nicht mehr mit! Wann kommen endlich konkrete Hinweise, wie man sich einer Erwünschten gegenüber am vielversprechendsten ausdifferenziert?

Wir durchleuchten immer noch den "Kommunikationsvorgang", der "auf Begründung und laufende Reproduktion von Intimbeziehungen angelegt ist." Will man intim kommunizieren, müsse man "so weit individualisiert sein", dass man sich "lesbar" verhalte. Unter Beobachtung befinden wir uns auch bei den "nicht als Kommunikation intendierten Aspekten kommunikativen Handelns." Mein Körper, diese Plaudertasche! (Bin ich, wie ich wohne, wie ich tanze, worüber ich lache, mit wem er verkehre, wie ich mich anziehe und wie ich beim Gehen mit den Armen schlenkere? Oder ist das alles irrelevant und nur meine Sonette geben verlässlich über mich Auskunft?)

Beim Beobachten kommt es zu Attributionskonflikten: Ich handle, weil ich durch die Situation dazu veranlasst werde, der Beobachter rechnet meine Handlungen meinen Persönlichkeitsmerkmalen zu. (Dabei handle ich nie nach meinen Persönlichkeitsmerkmalen, dann würde ich ja auf einem Pferd in den Abendhorizont reiten. Jede andere Form von Handeln ist doch nur ein kompromissbeladenes, den Zwängen der Zeit geschuldetes Gewurschtel.)

Man beobachtet Verhalten, um "die Einstellung des Partners nach den Vorschriften eines Codes für Intimbeziehungen zu testen." Könnern gelingt es sogar, "das Verhalten selbst dem vorweg anzupassen." Das klingt diffizil und tatsächlich rückt unter solchen Voraussetzungen die Reproduktion von Intimität in weite Ferne. Ein Beispiel veranschaulicht die Schwierigkeiten beim Attribuieren, es spielt sich – wo sonst?-, im Auto ab, dem Panzer der bundesdeutschen Kleinfamilie: "Die Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehen sie auseinander." Ich fahre, so gut ich kann, aber sie "fühlt sich durch die Fahrweise behandelt", und beginnt mit "kommentieren und kritisieren." (Sollten romantisch Liebende denn nur noch Taxi fahren? Oder immer einzeln ans Ziel gelangen? Oder sich möglichst gar nicht begegnen?) Dem Intimitätssuchenden empfiehlt es sich, die Frage zu kennen, die hinter ihrer Stirn ständig neu beantwortet wird: "Handelt er so, dass er meine Welt zu Grunde legt?"

Hoffnung kommt von gemeinsamem Situationswissen, das sich eignet "Nuancen des Verhaltens attributionsfähig zu profilieren." Geselligkeit und gesellschaftlicher Schliff boten früher Gelegenheit zum Vorbeobachten. Schwerer hat es Werther: "Der Dialog von Verführung, Widerstand und Hingabe, mit dem man bis dahin zurechtkommen zu müssen meinte, wird gesprengt, und die eigentliche Liebeserfahrung zieht sich – vom Werther bis zur Lucinde – ins liebende Subjekt zurück, das nicht mehr zureichend und vor allem nicht mit hinreichendem Erfolg kommunizieren kann."

Bei längeren Beziehungen stösst aber auch der Selbstmord als eigentlich ja einzig überzeugender Liebesbeweis an seine Grenzen. Wie schafft man "Reproduktion von Sinnüberschüssen, denen man entnehmen kann, dass die Liebe kontinuiert"? Mein In-seiner-Welt-vorkommen muss laufend reaktualisiert werde. Ich muss also für ihn beobachtbar machen, dass ich meine Gewohnheiten und Interessen überschreite. Aber Gruss, Geschenk und Abschiedskuss dürfen nicht zur Gewohnheit werden. "Es muss wiederholt werden, ohne die Merkmale des Wiederholtwerdens anzunehmen." Die klassische Liebessemantik schreibt vor, den anderen angestrengt zu beobachten und Hinweise auf Möglichkeiten auszumachen, ihm ein Zeichen der Liebe zu geben. Es wird aber noch komplizierter: "Man muss die eigene Identität als Garant für Dauer nämlich nicht statisch, sondern dynamisch einsetzen; nicht als so-wie-sie-immer-ist, sondern als an-der-Liebe-wachsend." Meine Identität macht mich ja eigentlich unabhängig von den Umständen. Nicht aber, wenn ich zum "Konzept der Identität-in-Transformation" greife. Wenn man also zeigt, dass man "durch ihn und durch die Liebe zu ihm das eigene Ich entfaltet." Ich stelle mir vor, wie ich mein zusammengefaltetes, geradezu zerknittertes Ich unter den kritischen Augen eines anderen Ichs auseinanderfalte und glattstreiche, und weiss für einen Moment, wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden.

45 von 230 Seiten

Jochen Schmidt / Dauerhafter Link / Kommentare (3) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Rudi K. Sander:

Ach bitte, Herr Schmidt, geben Sie wenigstens eines Ihrer Sonette hier pries: ich liebe diese Hohe Kunst und vermute nun in Ihnen einen Platen redivivus.

15.01.2008 / 09:02

Kommentar #2 von Rudi K. Sander:

Mist: es soll natürlich "preis" heissen.

15.01.2008 / 09:04

Kommentar #3 von 3xSch:

Das ist doch der Scholz . . . und der Schmidt . . . vor einer Bettwand? Hat das jetzt was mit dem Schlink-Vorleser zu tun?

16.01.2008 / 13:50