31.12.2007 / 11:56 / Jochen Schmidt liest: Liebe als Passion (Niklas Luhmann)

Zumutungsabwehrfunktion (33-41)


Nicht für die Kunst vordisponiert, aber darstellungswürdig: Wärmflaschensex
Foto: d.A.
Nicht zu verachtende Reflexivität des wechselseitigen Begehrens! Man begehrt nicht nur den anderen, sondern auch das Begehren des anderen. Je stärker mein Wunsch, umso mehr habe ich zu geben. Und es geht nicht ganz ohne Körper: "Die nichtsprachliche Kommunikation der körperlichen Berührung bietet einen wichtigen nichtlogischen Interpretationshorizont für sprachliche Mitteilungen." Ein Interpretationshorizont, der im Internet völlig fehlt. Wie soll ich hier "Entgleisungen durch einen Wechsel der Kommunikationsebene" korrigieren? Ich kann die Leser weder aufmunternd in die Brust puffen, noch kann ich meine Lieblinge unter ihnen lausen.

Sex macht dumm: "Für die Liebes-Semantik spielt die Ausschliessung von möglichen sexuellen Beziehungen eine erhebliche Rolle." Wo man einfach nur zuzugreifen braucht, also im Kommunismus oder in der ZIA, benötigt man keine Semantik. Sobald die Frau ein Mitspracherecht hat, wird der dann unvermeidliche Mangel an Sex poetisiert. Bis in der höfischen Liebeslyrik das Konzept der amour lointain aufkommt, bei der die Liebe zur abwesenden Frau als reinste Form der Liebe gefeiert wird. Später wird "Tugendbewahrung" zur "Eheerzwingungstaktik". Und im trickreichen 17.Jh., wo die Frau eine Freiheit im Sicheinlassen zugestanden bekommt, systematisiert sich der Code des amour passion. Nur, was unerreichbar ist, wird leidenschaftlich geliebt.

"Man kann bei Liebe nicht an Sinnlichkeit denken, so wie umgekehrt Avancen in Richtung auf sexuelle Beziehungen die Frage der nur vorgetäuschten Liebe aufwerfen." Mit ihr ins Bett zu wollen als Zeichen für fehlende Gefühle? Wie konnte es so weit kommen? Je unsicherer die soziale Beziehung, umso unentbehrlicher werde es, die Reaktionen auf meine Äusserungen "im System" zu interpretieren, also "als Indikator für zu Erhoffendes" lesen zu können. Eine Kunst, in der man es weit bringen kann. Natürlich hat sie nur mit mir Schluss gemacht, weil ihre heftigen Gefühle für mich sie zu zerreissen drohten.

Die folgende Seite lässt sich wie folgt zusammenfassen: Selbstreferenz Differenzierung Struktur Prozess Medium Systematisierung Codierung symbiotischer Mechanismus System Indikator doppelte Kontingenz selbstreferentielle Systematisierung Spezialcode Liebe Sondersemantik Reflexivität Inklusion

Im 17.Jh kommt es in der Liebe noch auf Seltenheitswerte an, Reichtum, Schönheit, Tugend. Unlösbare Verteilungsprobleme drohen. Wer würde zum Zuge kommen, wenn Ungewöhnlichkeit Prämisse ist und es nur wenige schöne und tugendhafte Damen und Herren gibt? (Eigentlich dürfte man dann ja nur die reichste und schönste von allen lieben, und alle anderen wären nur Ersatz.) Aber: "Die Entwicklung erzwingt eine zunehmende Neutralisierung aller Voraussetzungen für Liebe, die nicht in der Liebe selbst liegen." Bis es egal ist, wie der andere aussieht und was er für Qualitäten hat, weil meine Liebe zu ihm gar nichts mit ihm zu tun hat? (Traurig liest sich Fussnote 26: Die Universalität habe ihre Grenzen. Der Basismechanismus Sexualität sei relativ eigenständig. "Offensichtlich haben einige es hier leichter als andere, unabhängig von der semantischen Codierung ihres Verhaltens." Ganze Houellebecq-Romane werden hier zusammengefasst.)

Wo Knappheit an Schönen und Tugendreichen herrscht, kann man Eigenschaften, die zum Geliebtwerden nötig sind "trivialisieren" und "von historisch-biographischen Zufällen abhängig machen." (Bis jeder von einem Partner träumen darf, der aus historisch-biographischen oder anderen trivialen Gründen eindeutig für ihn bestimmt ist?) Eine Trivialisierung, die auch auf anderen Gebieten zu beobachten sei. In der Kunst werden "hässliche, alltägliche, in keiner Weise für Kunst vordisponierte Gegenstände darstellungswürdig." Und Recht ist nicht mehr Naturrecht, sondern was zum Recht gemacht wird. Und jeder, der sich an Wahlen beteiligt, kann Macht erlangen.

Der Buchdruck tut sein übriges. Schon im 17.Jh. wisse man: "Die Dame hat Romane gelesen und kennt den Code." Als würden Hechte "Fisch&Fang" abonnieren. "Etwas später wird auch der empfindsame Mann Opfer des Romans." Wer Romane liest, ist gewarnt. Als Verführer hat man damit zu rechnen, dass die Dame alle Floskeln und Gesten kennt, kann aber darauf bauen, dass sie trotzdem wirken. Denn zum Glück kann man sich "auf Interessen verlassen, die sicherstellen, dass es trotzdem funktioniert." Man wird also auch noch Sex haben, wenn eines Tages alle Frauen Luhmann gelesen haben.

Guter Vorsatz für 2008: Distinktionen der Moral und Anthropologie Alteuropas sprengen.

41 von 230 Seiten

Jochen Schmidt / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Rudi K. Sander:

Da heutzutage die Moralitätsverhaltenseichung via angesehener Filme funktioniert: Sie sind die Quelle, aus der unsere Damen ihre moralischen (und unmoralischen) Aktionen und Reaktionen schöpfen; was selbstverständlich auch die Kerle wissen, so wird es Ihnen kaum gelingen, Distinktionen der Moral zu sprengen: Wir sind alle viel zu abgebrüht und spielen nur noch augenzwinkernd mit.
Prost Neujahr!

31.12.2007 / 21:03