22.12.2007 / 11:30 / Oliver Schweinoch liest: Besuch in Deutschland (Hannah Arendt)

Das herrliche Fliegen und Weihnachten bei Jaspers (0-0)

Fliegen scheint 1949 eine etwas angenehmere Angelegenheit gewesen zu sein als heute. Oder ich sass, im Gegensatz jedenfalls zu Hannah Arendt, bisher in den falschen Flugzeugen. Arendt hatte damals beruflich für ein paar Monate in der eben gegründeten Bundesrepublik Deutschland zu tun (dazu später mehr) und bescheinigte ihrer Reise von New York nach Europa die besten Qualitäten: "Fliegen war ganz unbeschreiblich herrlich. Man ist mitten im Himmel, d.h. bewegt sich so selbstverständlich in der Luft wie ein guter Schwimmer im Wasser. Man hat keine Angst, kein Schwindelgefühl, weil das Nach-vorne-gezogen-werden bzw. das Fliegen selbst einem ein anderes Bezugssystem verleiht; (...) Man muss sehr aufpassen, um überhaupt zu merken, wann das Flugzeug die Erde verlässt oder sich wieder auf ihr niederlässt." Nur den Zwischenstopp quittierte sie eher missmutig, "drei Stunden in einem schäbigen, scheusslichen Wartesaal in Gander (...), irgendwo in Kanada, wo es bitterkalt und gut geheizt war." Davon abgesehen reiste sie in den folgenden Monaten wohl mehr oder weniger hektisch per Bahn durch die Gegend. Atempausen gab es wenige. Weihnachten verbrachte sie bei Karl Jaspers in Basel, wovon sie begeistert berichtete ("Jaspers ganz jung und lebendig und zu allem aufgelegt"). Einen weiteren längeren Aufenthalt scheint es in Berlin gegeben zu haben, wo sie "piekfein in Dahlem" wohnte. Diese Informationen stammen nicht aus Arendts Essay "Besuch in Deutschland", den sie bald nach ihrer Rückkehr in die USA veröffentlichte, sondern aus den Briefen an ihren Ehemann Heinrich Blücher, von denen ich ein paar zur Einstimmung und Vorbereitung gelesen habe. Ich hatte erwartet, dass ihr Bericht ähnlich konkret ausfallen würde, die ersten Worte allerdings lauten:

In weniger als sechs Jahren zerstörte Deutschland das moralische Gefüge der westlichen Welt, und zwar durch Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte, während die Sieger die sichtbaren Zeugnisse einer über tausendjährigen deutschen Geschichte in Schutt und Asche legten.

Womöglich wird das die übrigen Seiten so weitergehen. Ein flüchtiges Durchblättern legt leider nahe, dass man von den Orten und Menschen, die Arendt besuchte, wenig erfährt. Der einzige Ort, der mir auffiel, war Berlin. Ich werde also öfter auf ihre Briefe zurückgreifen, um ihre Reise nachvollziehen zu können. Die Formulierung "piekfein in Dahlem" gefällt mir so gut, dass ich schon jetzt einen Ausflug dorthin plane. Da ich aber demnächst nach Nordwestdeutschland fahren und ausserdem die Weihnachtstage nicht mit so legendären Typen wie Jaspers verbringen werde, finde ich wohl ausreichend Zeit, um zuerst das Vorwort ("Die Analität der Bösen") von Henryk M. Broder zu lesen, das ich zunächst aus reiner Bequemlichkeit versucht war zu überblättern. Aber die Überschrift macht mich nun doch neugierig, ausserdem scheint es im Text u.a. um Mülleimer für Dosen zu gehen.

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Oliver Schweinoch / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Laika:

In Gander (Kleinstadt in Newfoundland) landeten am 09.11.2001 mehr als 5000 Passagiere zwischen, weil der Nordamerikanische Luftraum gesperrt war. Mein Freund sass in einer dieser Maschinen von Paris nach New York, um mich zu besuchen.
Fliegen ist grossartig. Hannah Arendt auch. Denken Sie weniger an einen Reisebericht als ein feines Beobachten und nachhaltiges Urteilen.

03.01.2008 / 18:58