19.12.2007 / 11:48 / Jochen Schmidt liest: Liebe als Passion (Niklas Luhmann)

Spezialcode Liebe (30-36)


Zugang zum Vollzug
Liebe löse ihr Kommunikationsproblem eigentümlich, sie könne "Kommunikation unter weitgehendem Verzicht auf Kommunikation intensivieren". Man verlässt sich auf "Vorwegnahme" und "Schonverstandenhaben". Explizite Kommunikation berühre im Grunde unangenehm, weil sie zum Ausdruck bringt, dass etwas sich nicht von selbst versteht (der Anfang vom Ende ...) Daher die "Augensprache" und die Feststellung "dass Liebende endlos miteinander reden können, ohne sich etwas zu sagen zu haben." (Ein hinreichendes Kriterium für Liebe?) Im Idealfall wird bei mir, weil ich den Geliebten erlebe, automatisch das gewünschte Handeln ausgelöst. Alternativ dazu könnte ich darauf hoffen, durch ein Wunder plötzlich in der Lage zu sein, ihre Gedanken zu hören, oder auf mysteriöse Weise immer denselben Tag zu erleben, was mir erlauben würde, mein Handeln so lange zu justieren, bis es zu ihren Wünschen passt.

Was Ahnungslose für Liebe halten, also "Reziprozität wechselseitig-befriedigender Handlungen", ist diesem Begriff nicht angemessen. Liebe sei vielmehr "Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen". Und wenn der Andere nach langer Prüfung und hoher Übereinstimmung doch diesen einen Film mit Mel Gibson gut findet? Wie soll man das internalisieren? Wird es eine Ausnahme bleiben? Wenn nicht, dann lässt man das mit den Gemeinsamkeiten eben wieder und versucht es auf die reziproke Art mit wechselseitig-befriedigenden Handlungen.

Liebe sei, "dem anderen zu ermöglichen, etwas zu geben dadurch, dass er so ist, wie er ist." Haarig wird es, wenn der andere nicht mehr nur geben will, was er ist, sondern Dinge, die er lieber behalten sollte, womöglich sogar Gefühle. Ich meine, ich liebe ihn doch und nicht er sich, also kann ich doch auch entscheiden, was an ihm liebenswert ist.

Passion, Krankheit, Wahnsinn, Mysterium, traditionelle Künstlernamen für die Liebe. Von der Gesellschaft werde nicht nur toleriert, wer sich hier gehenlässt, sondern sogar mit einer Sonderrolle honoriert. (Als würde man jemandem Respekt dafür zollen, dass er sich im Tierpark zu den Löwen setzt oder einem auf der Autobahn entgegenkommt. Aber wo der Gesetzgeber es eigentlich verbieten müsste, verliebt zu sein, misst die Gesellschaft hier mit zweierlei Mass und lässt es zu, dass sich diese Krankheit in unserer Mitte ausbreitet wie ein Krebsgeschwür.)

Eine sensible Frage ist immer wieder die "organische Faktizität des Zusammenlebens", mit der man sich auseinandersetzen muss, wenn man ein Organismus ist. "Kein Kommunikationssystem kann ganz davon abstrahieren, dass Menschen leiblich beteiligt sind". Obwohl die Menschen die reine Liebe durch ihren grob gestrickten emotionalen Apparat sicher nur verfälschen, wie ja auch Musik vom menschlichen Ohr völlig entstellt wahrgenommen wird. Sexualität mache es "plausibel", dass die Partner auf Zusammensein Wert legen. Sie bilde aber, wenn mehrere Partner präsent sind, "eine diffuse Grundlage für Kommunikation". Geben und Nehmen, Belohnen und Zurückhalten, Bestätigen und Korrigieren, Tausch, Sanktionieren, Belehren und Lernen "verschmelzen" auf diesem Feld "ins Ununterscheidbare". Dabei kann man den Tauschwert, über den man hier verfügt, schwer verrechnen. "Deshalb kann in einem Masse, das sonst kaum erreichbar ist, unterstellt werden, dass das eigene Erleben auch das des Partners ist." (Obwohl in "Der perfekte Liebhaber" – dem Buch vom anderen Ende der Abstraktionsskala –, sinngemäss stand, dass das eigene Erleben nie das der Partnerin ist.) Und nun wird selbst Luhmann einmal ungehemmt poetisch:

"Die Inhibierung des an sich Möglichen ist Voraussetzung für die semantische Konditionierung des Zugangs zum Vollzug."

Früher hat man Bücher ja immer nach versauten Stellen durchsucht, diese wäre einem als 15jährigem wahrscheinlich entgangen. Wieviel subtiler man doch wird mit den Jahren, wieviel sensibler für Inhibierungen des Möglichen.

36 von 230 Seiten

Jochen Schmidt / Dauerhafter Link / Kommentare (2) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Rudi K. Sander:

Geschätzter Jochen Schmidt, was Sie hier aus 36 von 230 Seiten herausgeholt haben, lässt mich ja als angeblicher Präzisionsfanatiker beschämt in die Knie gehen: Grosses Kompliment; ich muss dieses schöne, aber doch auch so abweisende Buch doch wieder einmal lesen. Sie aber sind ein grosser und ein grossherziger Leser. Danke auch, dass Sie den Körper des Menschen so artig gelten lassen.
P.S. Für den Abdruck meines Lieblingsbildes einen Extradank: Ich habe mal gewusst, wer der Bildautor ist, ist mir aber leider entfallen; könnten Sie das nachschieben?

19.12.2007 / 17:02

Kommentar #2 von Rudi K. Sander:

Hurra!, ich habe es selber herausgefunden, ganz bescheuert bin ich in eroticis ja doch nicht:
Gustave Courbet "The Origin of the World" (1866).
Mann, Frau, Gruppe, Klique, ZIA: Was seid Ihr doch gebildet.
Herzliche Weihnachtsgrüsse an alle (die nicht zurückzucken, wenn sie nur meinen Namen lesen).

19.12.2007 / 18:15