18.12.2007 / 22:14 / Bruno Klang liest: Lerche (Dezsö Kosztolányi)

45 U/min (48-83)

Die Abreise ihrer Tochter wirft das Ehepaar Vajkay aus der Bahn. Lerche ist das Rückgrat ihrer Gewohnheiten, und allein sind beide ratlos, was sie mit sich anfangen sollen. Sie schlafen aus. Sie gehen seit langer Zeit wieder einmal essen. Es schmeckt gut im "König von Ungarn", aber das geben sie sich gegenseitig nicht zu. Mir ist zunächst Kosztolányis ökonomischer Stil aufgefallen. Er hat keine Angst vor Sätzen in drei Worten, ganz im Gegenteil, er setzt sie gern einmal dazwischen oder auch hintereinander, wenn das Geschehen auch nur in kurzen Sätzen weitergeht. Der Erzähler ist eher traditionell allwissend, dennoch liest man eine feine Ironie mit, die meiner Vermutung nach auch mit Kosztolányis souveränen Tempi zusammenhängt.


Lesemaschine für alle drei Geschwindigkeiten (Quelle)
Der Umgang mit Tempo in erzählender Prosa ist gar nicht so uninteressant. Denn es sind drei Geschwindigkeiten, die da synchronisiert werden müssen: das Tempo des Geschehens, des Erzählers und des Lesers. Und bei einem langsamen Tempo sind es nicht unbedingt die Länge der Sätze, die Anzahl der Konjunktionen oder Relativsätze, die sich in weiteren Untersätzen verlieren, welche das Tempo wie Felgenbremsen drosseln, sondern eher schwierige und ungeklärte Beziehungen aller Satzglieder untereinander, wenn Nebensätze wie alleinerzogene Kinder den Nachmittag alleine verbummeln zum Ende eines Absatzes. Das schnelle Tempo ist hart, kurz, auf den Punkt. Keine Relativkonstruktionen, eindeutige Verhältnisse, keine Gefangenen. Das ist zunächst einmal das einfache Verhältnis zwischen Geschehen und Erzähler, kompliziert wird es erst mit dem Leser durch mehrfache Synchronisierung. So ist es typisch für satirische und ironische Texte, dass der Erzähler mit dem Leser kollaborieren will, und wenn der Text gut ist, sind ihre Geschwindigkeiten exakt aufeinander abgestimmt. Es gibt auch die Situation, dass Geschehen und Erzähler auf die Eigenzeit des Lesers nicht die geringste Rücksicht nehmen, sehr krass bei Thomas Bernhard, aber auch bei Kafka findet man diese zerdehnten oder umgekehrt überhektischen Stellen. Selten, aber auch möglich, sind hohe gleiche Geschwindigkeiten von Ereignissen und Leser, denen ein Erzähler vergeblich hinterläuft, etwa bei Kleist.

Kosztolányis Erzähler ist eher ein Komplize des Lesers, der sich nicht plump anbiedert, sondern sich eben mit Beschleunigungen und Verzögerungen mit dem Leser in einen gleichen Takt bringt. Und das macht einen guten Teil dieser Ironie aus.

Detail: Seite 76: Das Ehepaar Vajkay liest Zeitung: "Zug fällt in Ohio von Eisenbahnbrücke. Zwei Tote und dreissig Schwerverletzte." Eine halbe Stunde Kampfgoogeln ohne Ergebnis. Sollte es jemand aus dem Publikum finden, gibt es eine Grosse Lobende Erwähnung. Der Roman spielt 1899, ich akzeptiere +/- 3 Jahre, +/- 3 Tote und +/- 10 Verletzte. Aber komme mir keiner mit Oregon oder Ottawa.


Kommentar #1 von Frau Grasdackel:

Stand am Mittwoch, 5. September 1894 auf der ersten Seite von "The New York Times":
Wrecked Bridge and Trains
Singular Accident and Reported Loss of Life at Columbus, Ohio
Columbus, Ohio, Sept. 5. A train of eight loaded coal cars broke loose in the Fifth Avenue yards of the Big Four Road shortly after midnight and, with great speed, ran down through the Union Station and west to the Otentangy River bridge, where it struck Baltimore and Ohio Passenger Train No. 106. It is reported that the bridge was knocked down and both trains plunged into the river. Details are meagre, but it is reported that a fireman was killed and many persons injured. The coal cars ran a distance of two miles from a point near the State Fair grounds.
Es war wahrscheinlich so, dass das abschliessende Untersuchungsergebnis erst im Jahre 1899 vorlag und das Ehepaar Vajkay dann davon lass.

19.12.2007 / 03:10

Kommentar #2 von bjoern:

hat sicher keinen anspruch auf vollständigkeit aber
http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_pre-1950_rail_accidents
passieren erstaunlich viele eisenbahnbrückenunglücke in ohio. mein tip wäre dass herr kosztolányi sich auf ein ereignis bezieht z.b. jan. 1902 und seting und opferzahlen der, ähh lesegeschwindigkeit oder so anpasst

19.12.2007 / 04:30

Kommentar #3 von bernd:

Da bin ich natürlich schon zu spät...
Und der Treffer von Frau Grasdackel ist leider auch nicht dabei (unter 10 Toten schaffts kaum ein Unglück in diese Liste), aber vielleicht findet sich ja ein intressierter virtueller Katastrophentourist:
http://www.disaster-management.net/pass_train.htm

19.12.2007 / 10:58

Kommentar #4 von hinzugegebenem Senf:

Scheint in der Tat insgesamt ein schlechtes, äh, Jahrzehnt zum Zugfahren gewesen zu sein, bjoern. Es darf nur an die Katastrophe von Ashtabula, OH, von 1876 erinnert werden. Steht aber auch auf bernds Liste.

19.12.2007 / 23:26