11.12.2007 / 17:51 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Gay Talese: Honor Thy Father (3-16)

Nach jahrelanger Sopranos-Pause bin ich dank Jochen Schmidt an der Stelle wieder eingestiegen, an der ich mich damals verabschiedet hatte: in der Mitte der zweiten Staffel. Schliesslich muss ich noch vor Neujahr 2008 wenigstens einen meiner drei Neujahrsvorsätze 2007, "verpasste Serien sehen", in die Tat umsetzen. Die anderen beiden habe ich zum Glück vergessen, einer davon könnte "weniger arbeiten" gewesen sein, den wird man dann wohl per Übertrag ins neue Jahr mitnehmen müssen. Beim Wiedersehen mit den Sopranos kann ich meinen damaligen Überdruss verstehen, denn die zweite Staffel guckt sich über weite Strecken wie Lindenstrasse. Die letzte Folge allerdings entschädigt für alle erlittene Unbill. In der dritten geht es so ähnlich weiter, schlimmes Familiengekeife durchmischt mit gelegentlichen Highlights. Immerhin stirbt Livia Soprano, so dass nur noch ungefähr zehn schwer erträgliche Gestalten bleiben. Das ist in "The Wire" anders, da gibt es keine unsympathischen Figuren. Von "The Wire" wieder auf die Sopranos umzusteigen fühlt sich an wie der Schritt beim Verlassen des Laufbands, aber was soll man machen, die fünfte "The Wire"-Staffel läuft erst im Januar an.

Einem Newsweek-Beitrag von Gay Talese über das Leben der vier Bonanno-Kinder (Link zur Zusammenfassung) lässt sich entnehmen, dass die Söhne Salvatore und Joseph zwar Freunde der Serie sind, Tony Soprano aber für "a vulgar low-life" halten, dem "the courtly shrewdness and dignified demeanor" ihres Grossvaters Joseph Bonanno fehlen. "Honor Thy Father", Gay Taleses Reportage über die Bonanno-Familie, ist 1971 erschienen, und Talese hat damit irgendeine neue Form des Journalismus mitbegründet, na gut, ich kann auch nachsehen: Es war der New Journalism. "After this piece, many magazine editors tacitly accepted the writer's technique of writing about the creating and compiling of the story itself, rather than simply writing about the subject." So steht es in Gay Taleses Wikipedia-Eintrag, und das ist ermutigend, denn schon habe ich viel Platz vertan, ohne auch nur einen Halbsatz über den Inhalt des Buchs zu verlieren. Immerhin wird gleich auf der ersten Seite Joseph Bonanno senior im Beisein seines Anwalts und auf offener Strasse von zwei bewaffneten Männern entführt.

Die Bonanno-Familie steckt aufgrund von Wiretapping in Schwierigkeiten; noch ist unklar, von welchem Jahr die Rede ist. Tony Soprano wird vom FBI noch ausführlich abgehört, während in "The Wire" mit Wiretapping schon nicht mehr viel zu wollen ist, weil die Betroffenen ihre Handys alle fünf Minuten wegwerfen. Nach 40 Sekunden müssen die Abhörenden in beiden Serien entscheiden, ob das mitgehörte Gespräch relevant oder rein privat ist. Ich wüsste gern, ob das den Tatsachen entspricht und falls ja, warum Verbrecher ihre Gespräche nicht mit 40 Sekunden belanglosem Gerede einleiten. Danach scheint sich ein unbelauschtes Zeitfenster von zwei Minuten aufzutun, was ja wohl für etwa fünfzig handelsübliche Mordbesprechungen ("Take care of it." – "I'm on it.") reicht.

Sowohl bei den Sopranos als auch in "The Wire" kann man Nützliches über Prokrastination lernen: Klar umrissene Sanktionen und regelmässig statuierte Exempel verringern die Wahrscheinlichkeit, dass herumgetrödelt wird. Deadlines unter Dealern und Mafiosi heissen nicht ohne Grund so, und man darf zwar ab und zu Geldumschläge abliefern, die nicht den vereinbarten Betrag enthalten, aber dann werden bis nächsten Freitag hundert Prozent Zinsen fällig. Dazu kommt ein laxer Umgang mit Steuergesetz und Schwarzarbeit; organisierte Verbrecher führen ein vorbildlich vereinfachtes Leben. Kein Wunder, dass man so selten von unorganisiertem Verbrechen hört.

Auf der letzten Seite des ersten Kapitels betätigt der zweijährige Joseph Bonanno junior (der später Kinderarzt wird und oben mit seiner Meinung zu den "Sopranos" zitiert ist) beim Herumkrabbeln im Esszimmer der Bonannos versehentlich den Abzug eines an die Wand gelehnten Gewehrs. Der Schuss dringt durch die Decke ins Obergeschoss, wo er den schlafenden Joe Magliocco nur knapp verfehlt. Magliocco stirbt zwei Wochen später an einem Herzinfarkt. Ach, ach, ach, der Kindheit unschuldige Spiele.

Prokrastinationsbuch: 25 von 200 Seiten geschrieben.


Kommentar #1 von General Jack D. Ripper:

Ein anderer Vertreter des New Journalism könnte Ihnen, Frau Passig, auch was über Prokrastination vertickern. "Faced with a deadline and without any coherent story for his editors, [Hunter S.]Thompson began tearing pages from his notebook, numbering them, and sending them to the magazine."
Und es dann als Neuen Journalismus (Gonzo) verkaufen, der alte Schlawiner.

11.12.2007 / 18:31

Kommentar #2 von Kathrin:

Am Ende der dritten Sopranos-Staffel wird der "The Wire"-Entzugskranke übrigens durch einen kurzen Auftritt von Omar getröstet. Letzte oder vorletzte Folge.

17.12.2007 / 17:26