04.12.2007 / 23:43 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Frühvollendet

2005 las Susanne Heinrich "DIE FRAGE, WER ANFÄNGT"

Für Nachwuchsautoren
Wegen der Statuten (innere Unveröffentlichtheit) wähle ich aus 2005 den Text der damals 20-jährigen Susanne Heinrich. Ich war auf dem Flug nach Klagenfurt, als sie las, und hatte später kein Bedürfnis, den Text nachzulesen. Trotzdem schrieb ich mal anderswo was dazu ins Netz und bekomme dafür bis heute Googleanfragen nach "iris radisch ficken". Text, Portrait, und Lesung.

Aus Langeweile streiche ich beim Lesen an: Etwa 350 mal icht, micht und meint Susanne Heinrich in ihrem Text so jugendlich herum. Es gibt ja zwei Arten von Ich-Texten, die "Ich bin der Autor"-Texte und die "Ich ist ein Anderer"-Texte. Beispiel für die erste: Esra – Adam ist Biller. Für die zweite: Moby Dick – "Call me Ismael" ist nicht Melville. Die Kategorien fransen an den Rändern oft aus, zum Beispiel nach: "Ich wäre der Autor gerne", und dessen verdächtige ich Heinrich. Gönne mir Gröbern: Ich nehme die Autorin Susanne Heinrich für ihre Figur.

Inhalt: Ich ist Luna. Luna wohnt mit Leander, fickt aber nicht mit ihm, sondern neuerdings mit Mirko. Nach ein paar mal Ficken merkt sie, dass sie sich doch lieber in Leander verlieben will. Luna hat einen glitzy Beruf (Schauspielerin). Luna ist total faszinierend, das sagt ihr einer, "der bis zwei Stunden nach der Vorstellung auf mich gewartet hat, um ... mir zu sagen, wie faszinierend er mich findet..". Sie ist auch sehr ernst und reif ("Wir sind tief und kompliziert heute morgen..."). Und natürlich hat sie einen poetischen Namen, der richtige Mann hat auch einen, nur der Falsche muss ganz ostig "Mirko" heißen. Stilmittel: Too-muchism.

Vorbildlich bescheidener Namensgeber dagegen ein anderer frühvollendeter Autor:
"Erich Sommer, seine Frau Hilde und seine drei Kinder, Horst, Rudi und Heidi." schrieb der damals 20-jährige Franz Müntefering in seinem Text "Die Frau des Säufers" (Link zur Hörfassung).
Inhalt: Ich ist Hilde. Die lässt den Mann die Kinder prügeln, wenn auch ungern, und beklagt sich, dass die dann die ganze Nacht flennen. Bedauert, obwohl selbst im Dreck sich wälzend, die arme Nachbarin Frau Keisen, deren Mann tot ist, und die noch nicht mal einen Fernseher hat. Dabei hätte sie selber lieber einen toten Mann und mehr Freude am Fernseher, wenn der bezahlt wäre. Sunderner Realismus.

Die Texte haben augenfällige Gemeinsamkeiten. Beide beginnen mit "Zwei...".
Müntefering: "Zwei Zimmer und ein Bad."
Heinrich: "Zwei Zigaretten später liege ich auf ihm und weiß nicht, wie ich dahin gekommen bin."
In beiden Texten raucht eine Frau im Bett.
Müntefering: "Hilde liegt im Bett. ... Jetzt raucht sie eine Zigarette."
Heinrich: "Wir rauchen beim Ficken."

Müntefering ist ökonomisch: Nach zwei Seiten ist Schluss. Luna dagegen nervt. Sie nervt, weil sie keine Gelegenheit auslässt, auch überflüssige Ich's zu schreiben. Füllsel wie "ich bin sicher", Wiederholungen "er erzählt mir, ..., er erzählt mir, ..., er erzählt mir" statt schlichtem "er sagt" oder "er erzählt", und Ich-Gewitterchen wie: "... wenn er weiß, was ich sagen werde, weil ich weiterrede, obwohl ich weiß, dass er weiß, was ich sagen werde, weil das so ist und nur hier so sein kann und weil ich niemals aufhören will, mich Leander zu erzählen." Zehn weitere Seiten erzählt sie sich uns. "Die Stadt macht mir klar, dass sie nichts mit mir zu tun hat." Ich verstehe diese Stadt.

Wertung: Jugendlich. Iris Radisch fand "rauchen beim Ficken" toll, fühlte sich sonst aber wie Ursula März auch zu alt für den Text. Jury-Diskussion.

Texte aus 6 von 30 Jahren gelesen.



1980, 1981, 1991, 1996, 1999, 2005

(Übrigens wurde Münteferings literarische Karriere stellvertretend von seiner Tochter Miriam wieder aufgenommen. Die schreibt lesbische Liebesromane. Ihre Figuren heißen Emma, Michelin, Karolin, Pe, Frederike, Madita, Martje und Luna. Dann doch lieber Horst und Hilde.)


Kommentar #1 von Rudi K. Sander:

Meiner Meinung nach, ist "rauchen beim ficken" kategorial unkorrekt, weil es ununterscheidbar ist, ob es sich um das Genannte, odern vice versa um "ficken beim Rauchen" handelt. Es muss parallelisierend heissen "rauchen und ficken", nämlich beides gleichzeitig; ob das dann allerding erotisch das Gelbe von Ei sein soll, na gut, Geschmackssache.

09.12.2007 / 17:24