29.11.2007 / 10:56 / Aleks Scholz liest: The Road to Reality (Roger Penrose)

How to be free: Manifolds of n dimensions (217-246)

Kapitel 12 und 13 lese ich im Ardenbeg Bunkhouse in einem Dorf am Westrand der Cairngorm Mountains. Es ist elf Uhr abends, der Wecker steht auf sieben, damit jede Sekunde Tageslicht zum Bergsteigen verwendet werden kann. Der Körper versteht allerdings nichts vom Tageslicht und weigert sich, zu so einer absurden Zeit einzuschlafen. Rechts liegen kann ich nicht, weil ich beim ersten Sturz an den Eishängen des Cairn Gorm auf die rechte Hüfte fiel; links liegen kann ich auch nicht, weil ich beim zweiten Sturz, man ahnt es. Auf dem Bauch liegen geht auch nicht, weil ich beide Male auch Knie und Ellenbogen demolierte. Mein verrückter Studienkollege Schliemann rief jedesmal, wenn er bei Glatteis ausrutschte: "Mü! Zu niedrig! Mü!", womit er den Reibungskoeffizienten meinte. Dann lachte er immer sein irres Lachen. Wegen niedrigem Mü gezwungen, sich mit n Dimensionen zu befassen. My life has gone Schliemann.

Die Cairngorms sind eine Art Mini-Sibirien in Ostschottland; ein grosser runder Fleck auf der Landkarte ohne Strasse, ohne Siedlung, nur Berge und Wüstenei im Umkreis von locker 50 Kilometern. Es ist dieselbe Gegend, in der Peter Higgs 1964 das Higgs-Boson einfiel, das hypothetische Teilchen also, das all den anderen Teilchen mitteilt, welche Masse sie haben. Irgendeiner muss es ja tun. Es ist leider nirgendwo vermerkt, an welcher Stelle in den Cairngorms Peter Higgs die Idee mit diesem Teilchen hatte, im Gegensatz zu den Quaterionen-Gleichungen von William Rowan Hamilton, die er sofort am Ort der Erleuchtung, auf der Brougham Bridge in Dublin, in einen Stein meisselte, wo sie seit 1843 nachzulesen sind. Es wäre grossartig, gäbe es eine Weltkarte, auf der die Orte genialer Einfälle verzeichnet sind; vielleicht bilden sie einen randlosen topologischen Raum, der sich durch eine Lineartransformation orthogonalisieren lässt oder so. Vielleicht entsteht so aber auch nur ein dekoratives Muster auf der Weltkarte, mit dem man T-Shirts für Nerds bedrucken kann.

Mir kommt in drei Tagen Cairngorms kein einziger richtig guter Einfall, mal abgesehen von Trivialitäten wie "Eis ist glatt", "Wasser ist nass", "Berge sind hoch", "November ist praktisch Winter" und "beim nächsten Mal vielleicht nachdenken, bevor man die (sehr schlechte) Wettervorhersage ignoriert". Es ist so dämlich, dumm zu sein.

Statistik zum Verständnis: (Erklärung)
V3 – multiple connectivity, fundamental theorem of calculus, integrals of forms, compactness
V4 – covectors, exterior derivative, summation convention
V5 – Hausdorff space, Grassmann products, diagrammatic tensor notation (letztere ein hoffnungsloses Gewirr von Symbolen und Linien, von Penrose eigenhändig erfunden, damit man ihn besser versteht – noch so ein Narr)

Fähigkeit, die ich manchmal gern besässe: shrinkability

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Aleks Scholz / Dauerhafter Link / Kommentare (7) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Kathrin:

Leider ist auch nicht ganz klar, wo auf der kalifornischen Route 101 Kary Mullis die Polymerase-Kettenreaktion einfiel, und ob es nicht doch vielleicht stattdessen beim Rangieren mit seinem Auto war. Aber Mullis lebt noch, man könnte fragen. Higgs übrigens auch.

29.11.2007 / 13:00

Kommentar #2 von Kathrin:

Und "McCarthy's house", in dem Whit Diffie sich das Public-Key-Verfahren ausdenkt und beinahe gleich wieder vergisst, ach, man könnte so schöne Geek-Busreisen anbieten, wenn die Leute etwas gründlicher in ihren Ortsangaben wären ...

29.11.2007 / 13:06

Kommentar #3 von Kathrin:

Und am Eagle Pub in Cambridge steht auch nur dran, dass Crick und Watson hier erstmals mit der Doppelhelix geprahlt haben, die Welt geht zu fahrlässig mit den eigentlichen Koordinaten grosser Ideen um.

29.11.2007 / 13:14

Kommentar #4 von Kathrin:

Falls dagegen eines Tages jemand fragt: "Frau Passig, wo kam Ihnen eigentlich die Idee zu dem Geek-Busreiseunternehmen, das Sie zur reichsten Frau des Planeten gemacht hat?", dann kann ich sagen: Es war im Starbucks Friedrichstrasse, am letzten Tisch vor dem Klo. GPS-Koordinaten trage ich dann noch rechtzeitig nach.

29.11.2007 / 13:32

Kommentar #5 von Ansgar Soch:

Wo die Epidemiologie erfunden wurde: http://www.sph.umich.edu/epid/GSS/pub.html

01.12.2007 / 21:17

Kommentar #6 von Kathrin:

Und hier jetzt endlich ein WIRED-Photoessay zu diesem schönen Thema.

02.04.2008 / 02:34

Kommentar #7 von Kathrin:

In dem die Kary-Mullis-Frage aus #1 zweifelsfrei geklärt wird.

02.04.2008 / 02:40