22.11.2007 / 17:30 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Ambitionen (113-138)


Leitern. Besteigen?
Vom Bahnsteig aus sieht man am Journal Square – seine Geschichte kennt ihr ja schon – auf beiden Seiten Felswände, drüber ein von Jahrzehnten durchrumpelnder Züge schwarz gewordener Schatten. Bei der Einfahrt in die Höhle sprühen Funken immer an derselben Stelle, als schweisse draussen vor dem Wagen jemand den Sprung in der Welt notdürftig zusammen: Aufhebung der Ursünde im Lichtbogen des abbremsenden Nahverkehrs.

Oben an der schwarzen Decke, auf den Pfeilern, wohnen Tauben. Man sieht das zuerst nicht, so wie man die Mäuse auf den Schienen und zwischen dem Müll nicht sieht, muss ein paar Minuten hinsehen, und dann treten sie aus der Schwärze auf ihre kleine Bühne und spielen ihr Leben vor. Dort unter der dunklen Decke wird der Vogel bald sein Nest bauen, oder vielmehr ja ein "Nest", einen Haufen Dreck und Taubenscheisse zusammenscharren, ein Ei reinsetzen, ein Kind rauswerfen, ehe er dann vom Habicht zerfetzt und vom Taxi überfahren wird. Ein kleines Leben ist das, aber die Ähnlichkeiten mit meinem eigenen rühren mich doch, die Ambitionen, die Hoffnungen. Dabei werde ich selbst vermutlich weder ein Ei legen noch von einem Taxi überfahren werden.

Am anderen Ende der Skala stehen Biografien wie die von Al Smith, dem Gönner und Förderer unseres Helden, wie ich Moses von jetzt ab nennen werde, aus Scheiss. Das Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen, das an Dimensionen gewinnt, wenn man den Spaziergang über die Brooklyn Bridge schon mal selbst gemacht und die Tenements in der Lower East Side selbst gesehen hat, und die wacklige Flugbahn nach oben und nach Norden, bis zum Einschlag im Gouverneurspalast, die Ähnlichkeitsmaschine sucht nach Parallelen. Die Gesetzestexte, von denen Smith nichts versteht, und in denen er sich dennoch Jahr um Jahr vergräbt, sind sie nicht wie ein Flug quer über einen Kontinent, den man sich nicht leisten kann, und den man antritt nur um dort vor einer Prüfungskommission kampfzutanzen? Oder wie das Taubenei, schnell gelegt und schneller noch zu Gips getauscht.

Nein, sind sie nicht.

138 von 1162 Seiten

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Kommentar #1 von Frau Grasdackel:

Dürfen Sie mittlerweile einen scharzen Gürtel tragen?
Übrigens, ich liebe Flughäfen, Bahnhöfe und insbesondere Untergrundstationen. Leidenschaftlich gerne fotografierte ich früher die Namenschilder in Londoner Underground-stations. Namen wie "Elephant&Castle", "Hammersmith", "Shepherd's Bush", "Edgware Road", "Pudding Mill Lane", "Embankment", "King's Cross St." erweckten in mir mindestens so erdkerntiefe Gefühle im Positiven wie sie von Herrn Lobo im Negativen beschrieben werden. Ein Einheimischer gab mir den Tipp doch lieber schönere Dinge zu fotografieren. Ich konnte ihn nur sprachlos verzückt anschauen.

23.11.2007 / 03:03