11.11.2007 / 01:12 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Wolfgang Koeppen – Siegfried Unseld: Der Briefwechsel (9-49, 139, 218, 262, 321, 372, 426, 516)


The Long White Con
(links Betrüger, rechts Betrogener)
Eine der schönsten Prokrastinationsformen ist die gründliche Erforschung der Prokrastination. Das wusste John Perry, und weil ich das jetzt auch weiss, habe ich den Briefwechsel zwischen Wolfgang Koeppen und Siegfried Unseld bestellt, in dem sich angeblich Grosstaten auf dem Gebiet der leeren Versprechungen entfalten. Kurzfassung: Koeppen kündigt seinem Verleger Unseld ein Buch an, Unseld versucht 35 Jahre lang, ihn zur Abgabe zu bewegen, Koeppen gelingt es währenddessen, immer wieder neue Vorschüsse aus Unseld herauszuwringen. Das Buch wird nie fertig.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Jugend aus diesem Briefwechsel Nützliches lernen kann, denn die Verleger von heute sind vielleicht nicht mehr aus demselben Plüsch geschnitzt wie damals. "Verehrter, lieber Herr Koeppen", so fangen Unselds Briefe an, und mit "Ihr sehr ergebener" enden sie wieder. Im vierten Brief sagt Unseld seinem Autor "für die sechs Monate, in denen Sie am Roman arbeiten" 1000 DM pro Monat zu. Leider können wir aus unserer schlauen Rückblicksperspektive Unselds Optimismus nicht teilen, was weh tut, denn im Schnitt sind Verleger viel nettere Menschen als Autoren. Möglich, dass sie heimlich in ihren Büros oder nach Feierabend herumschreien und nach der Katze treten, aber nach aussen hin ist es ihre Aufgabe, durch ihre sanfte und anrührende Art beim Autor ein derart schlechtes Gewissen zu erzeugen, dass tatsächlich hin und wieder mal ein Buch fertiggestellt wird.

Dass Wolfgang Koeppen nicht gerade von Tatendrang geschüttelt wird, hätte man vielleicht schon 1959 ahnen können:

"Marion und ich überlegten ernsthaft die Reise nach Frankfurt, schreckten aber doch vor einem so gewaltsamen Unternehmen zurück."

Ein knappes Jahr später, von einer Buchabgabe ist in der Zwischenzeit zumindest im Briefwechsel nicht die Rede gewesen, schreibt Unseld: "Lieber Herr Koeppen, ich hoffe, Sie sind trotz aller psychischen Hemmnisse schon kräftig an der Arbeit", und schon im Januar 1961 ist Koeppen "verwundert, befremdet, stutzig gemacht und gekränkt" sowie "schockiert" davon, dass Unseld in einem Nebensatz auf die bereits erbrachten Vorleistungen des Verlages hinweist. "Überdies ermahnen Sie mich, wie ein strenger Vater den faulen Sohn, das Vertrauen des Verlages nicht zu enttäuschen. Ist dieser Zeigefinger nicht zu früh erhoben? (...) Bei mir, das lehrt mich die Erfahrung, besteht die grosse Chance, dass ich termingerecht oder nur wenig verspätet fertig sein werde."

Von der restlichen Entwicklung kann ich nur Zufallsstichproben nehmen:

1966: "Ich flehe Sie nochmals an, schreiben Sie, schreiben Sie!"
1971: "Lieber Herr Koeppen, heute ist der 20. August. Das war doch ein Termin, den wir uns beide gestellt haben. Wie sieht es mit dem Manuskript des Romanes aus?"
1974: "Lieber Wolfgang, in meinem Kopf steht eine Notiz, wonach Du mir bis zum 20. Mai eine Nachricht geben wolltest, ob wir mit dem Manuskript rechnen können. Wie steht es damit?"
1978: "Bitte, lass es mich tun. Ich mag über das wie und wo heute nichts sagen. ich werde mich ransetzen mit dem Vorsatz, es bis zum 13. Juli (Julei) zu schaffen. Ein Risiko bleibt."
1981: "Es war reiner kindischer Trotz, dir zu sagen, dass ich seit Juni keine Zeile am Roman geschrieben hätte. Natürlich habe ich geschrieben ..."
1984: "Lieber Wolfgang, ich lege Dir hier einen Scheck über DM 15.000 an, damit Du rasch in den Besitz des Geldes kommst."1
1992: "Das Schlimmste: Das Versprechen 01. Februar lässt sich nicht halten. Ich bleibe aber dran."
1995: "Lieber Siegfried, ich werde dieses Buch und auch andere Bücher fertig schreiben. Lasse mich das schreiben, störe mich nicht."

Mehr über die schädlichen Folgen von Abgabeterminen für die intrinsische Motivation: Burgess M, Enzle ME, Schmaltz R.: Defeating the potentially deleterious effects of externally imposed deadlines: practitioners' rules-of-thumb. Nach der bisherigen Lektüre wissen wir allerdings nichts darüber, ob Koeppen vielleicht gar keine Lust hatte, einen Roman zu schreiben, ob es ihm also an intrinsischer Motivation fehlte und auch ohne Abgabetermin nichts geschehen wäre. Vielleicht geht das aus den restlichen 500 Seiten hervor, vielleicht auch nicht.2

Gestern Treffen mit Sascha Lobo und dem Verleger des Prokrastinationsbuchs. Der Verleger sanftmütig, rosig und herzensgut wie immer, deshalb sofort wie Akne aufblühende Schuldgefühle. Sascha hat hinter meinem Rücken statt Januar eine Abgabe Ende Februar in den Vertrag schreiben lassen, was vermutlich bedeutet, dass er nicht im Traum an eine Abgabe vor Juni denkt. Muss bei Gelegenheit nachsehen, ob das Jahr erwähnt wird.

Nachtrag 1: Das Buch jetzt willenlos doch vollständig verschlungen habend, weiss ich, dass diese 15.000 kein leichtgläubiger Vorschuss mehr waren. Koeppen hat tatsächlich in den 70er Jahren das eine oder andere geschrieben und wurde dafür bezahlt, nur eben nicht den versprochenen Roman.

Nachtrag 2: Auch diesen Absatz kann ich nach der Lektüre so nicht stehen lassen, vielleicht war das Problem eher das Fehlen verbindlicher Abgabetermine.



Prokrastinationsbuch: 10 von 200 Seiten geschrieben.


Kommentar #1 von Kathrin:

Update: Bis Seite 104 zahlt Unseld Koeppen insgesamt fast 80.000 DM Vorschuss aus.

11.11.2007 / 02:34

Kommentar #2 von Kathrin:

Auf Seite 140 dann ein grossartiger, loboesker Plan: "Es packt mich der Schwindel, denke ich an die Anstrengung und die Kraft, die zur Rettung nötig wären. In Verzweiflung und Panik habe ich, obwohl praktisch geldlos, eine irrsinnig teure Wohnung gemietet, in der ich im April und Mai mein Buch fertig schreiben will. Es steht alles auf des Messers Schneide; der Gedanke an die wahnsinnige Miete könnte mich auch lähmen."

11.11.2007 / 03:11

Kommentar #3 von Frau Grasdackel:

Mich wundert ja, dass Herr Koeppen soviel Kraft besass, den Fragen seines Verlegers immer wieder mit unauslöschlicher Fantasie zu begegnen. Erschreckend amüsant das Ganze. Bei all Ihrer Prokrastinationsliebe – aber soviel Schlechtigkeit traue ich Ihnen wirklich nicht zu.

11.11.2007 / 04:08

Kommentar #4 von Kathrin:

Seite 284: "Weitere Vorhaben für diesen Zeitraum waren eine Schiffsreise, die W.K. auf der Ostroute über verschiedene Stationen in Asien nach New York führen sollte, woraus das Buch Reise um die Welt entstünde. S.U. sagte für den Realisierungsfall eine Kostenübernahme von DM 20.000 zu."

11.11.2007 / 04:16

Kommentar #5 von Kathrin:

Keine Ahnung von Prokrastination dagegen Unseld. Joachim Unseld im Interview: "Mein Vater war keine geradlinige Persönlichkeit, er konnte sich nur durch allerhöchste Disziplinierung zusammenhalten. (...) Bei ihm hiess es immer: Ich muss. Ich muss. Ich muss. Sein Arbeitsplatz war voll gehängt mit Zetteln, so Sprüchen, die ihn motivieren, stimulieren sollten." (Quelle)

11.11.2007 / 16:18