06.11.2007 / 22:16 / Kai Schreiber liest: The Power Broker (Robert A. Caro)

Aufstieg, Abstieg (38-55)


Pfusch, Elend, Verfall.
Seit zwei Monaten steige ich in Jersey City, dem Stiefvorort Manhattans, der sich wegen des zu ihm gehörenden Ellis Island frech "America's Golden Door" nennt, und aber trotzdem bestenfalls New Yorks Hintertreppe ist und unschön riecht, tagtäglich drei Treppenabschnitte aus Journal Square ins Innere der Erde hinab. Auf allen drei Abschnitten gibt es Rolltreppen, auf allen drei Abschnitten sind sie ständig kaputt. Auf den Sperrholzplatten, die die Treppen abriegeln, steht ein Reparaturdatum angekündigt, das ständig wie der Weltuntergangstermin einer bekloppten Sekte heranrückt, verstreicht und dann ein kleines Stück in die Zukunft verschoben wird. Hin und wieder krabbeln auch Menschen im Handwerkerkostüm die stillgelegten Stufen rauf und runter. Gearbeitet wird da nicht erkennbar. Faules Gesindel.

Am Fuss der drei Treppenfluchten, und also geschätzte zwanzig Meter unter dem Platz befinden sich die Bahnsteige. Die Gleise führen absurderweise auf beiden Seiten ebenerdig direkt ins Freie. Eine breite und tiefe Schneise zieht sich durch die goldene Pforte Amerikas, an den Seiten der Gleishalle tritt nackt das Gestein zu Tage, schön sähe das aus, läge nicht ausserdem alles voll Müll. Hin und wieder kommt ein Gleisarbeiter neben der stillgelegten Rolltreppe herunter auf den Bahnsteig, einen grossen schwarzen Müllsack auf dem Rücken wie der Weihnachtsmann in einer plumpen Adbusters-Kampagne, nimmt den Sack vom Rücken, schwingt ihn mächtig hin und her, und wirft ihn dann über zwei Gleise und Meter müllbesäten Zwischenraums hinweg auf einen Container hin. Manchmal trifft der Weihnachtsmann sogar, dann feiern seine Elfen ein Fest in der kaputten Rolltreppe.

Und schuld an allem Elend ist dieser eine Mann, diese zweite Arschgeige aus Yale, dieser angelernte Oxford-Snob, mit seinen Strassen und seiner Sabotage der U-Bahn-Netze, die Spinnenkröte von Randall Island. Fast möchte ich mich auf eine Bananenkiste stellen und ein bisschen rumtrompeten, aber ich hab keine Bananenkiste, und da kommt schon mein Zug.

55 von 1162 Seiten

Kai Schreiber / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von pessimistischer Optimist:

Deutlich spüre ich, man nennt das wohl Intuition, dass es tatsaechlich Sinn macht, die anderswo fiktiv beschriebenen Wirklichkeiten in dieser, auf den ersten Blick, saloppen Beschreibungsweise ins allgemeine Gedaechtnis zu heben. Man gewinnt dadurch überraschenderweise einen Standpunkt, von dem aus sichtbar wird, wie unangemessen und geradezu verbrecherich wir angeblich zivilisierten Menschen mit unserer Welt und deren knappen Ressourcen umgehen.
Weiter so: Sie und ihre Gedankenfreunde oeffnen den Leuten die Augen und sie sehen ploetzlich das Grauen der Welt.

07.11.2007 / 16:08