05.11.2007 / 18:06 / Bettina Andrae liest: Meine wichtigsten Körperfunktionen (Jochen Schmidt)

Die "Jacke" (S.7-11)

Fast wäre das Buch auf dem Sofa liegen geblieben, ich hatte nur an das MacBook gedacht und musste auf halbem Weg im Treppenhaus noch einmal umkehren deshalb. Im Grunde war kein Platz mehr für Schmidts Körperfunktionen in meiner Reisetasche, ich musste sie sehr rabiat hineinstopfen. Gott, sah die schöne Tasche nun scheisse aus. Ich hätte das Geschenk für meinen Gastgeber in Zürich stattdessen auspacken können, aber der sollte sich damit schliesslich nachts in Zürich Treichels Verlorenen beleuchten, um den hier an diesem Ort bald zu lesen.

"Ich wollte nicht wirklich ein Aalbrötchen, das will ich an der Stelle noch mal sagen!" sagte die Frau mir gegenüber gerade in ihr Telefon, als ich auf dem Tisch mein Zeug nach ästhetischen Gesichtspunkten fertig drapiert hatte. Laptop, das Telefon fürs Internet, drei Wal- und zwei Haselnüsse, das Notizbuch, die weissen Lederhandschuhe und: Schmidt. Blöderweise störte das Buch mein Arrangement. Ich nahm es wieder vom Tisch und überlegte, wohin damit. Ich würde es jedenfalls benötigen, wenn ich darin lesen wollte. Unter dem Tisch war es zu dunkel und auch nicht geräumig genug. Ich fummelte ein wenig an ihm herum – dabei ergab sich die Lösung wie von selbst. Die eigenwillige Buchdeckelgestaltung erwies sich also doch als nützlich: ich klappte sie vorn und hinten so ein und um, dass das Bild von Schmidt in der Sauna und das, wo er auf der Bank im Museum sitzt, nun nach innen geschlagen waren. So hatte ich ein Buch im herrlichsten Weiss, dessen hübsche rote Lettern einen dezenten, aber wirkungsvollen Kontrast zu meinem unschuldigen Ensemble herstellten. Ich war sehr zufrieden und rückte es in eine 90 Grad-Position zum weissen Laptop. Dann checkte ich, ob das Internet aus dem Telefon funktionierte und lehnte mich zurück. Die Frau gegenüber sagte "Du Schlingel" in ihr Telefon. Das machte mich irgendwie scharf. Ich schlug den Schmidt auf.

Eines Tages beginnt es in Der lange Weg zur Tür, dem ersten der zweiunddreissig Texte. Wie – sollte das hier ein Märchen werden? Fiktion? Ich hatte auf Tatsachen gehofft. Die Enttäuschung über Schmidts erste beiden Worte wich nach zehn Zeilen endlich. Bis dahin bringt er es zustande, aufzuzählen, was er wie und wo einsteckt, bevor er seine Wohnung verlässt – Taschentuch, Telefon, ein Buch – wen interessiert das! In Zeile elf kommt er zur Sache: Die ideale Jacke war immer die Jacke, die man gar nicht bemerkte. So kann man das sagen – absolut treffend – aber man muss schon Schmidt für diese Worte sein. Ich hatte die Erfahrung zwar geteilt und an ihm auch immer am allerliebsten diese "Jacke" gemocht, wäre aber nie auf den genialen Gedanken gekommen, es so zu formulieren. Ich sollte ihn bei Gelegenheit vielleicht bitten, sie auch wieder einmal für mich anzuziehen, ich habe ihn schon lange nicht mehr darin gesehen. Ab Zeile dreizehn verfällt Schmidt leider wieder in das Aufzählen langweiliger Haushalts- und Alltagsverrichtungen; Müll fortschaffen, Gesicht eincremen, aufräumen. Alles nachvollziehbare Dinge, doch wozu? Auf Seite elf unterläuft ihm dann ein schlimmer Patzer. Da ich mich in meinem ersten Studium zwei Semester mit der Logik als Disziplin befasste, werde ich über bestimmte Dinge einfach nie mehr hinwegsehen können. Ich nahm die Bahncard und die Geldkarte aus dem Portemonnaie, sollte ich die verlieren, wäre es besser, die nicht dabei zu haben. Da stellt sich schon die Frage, ob es vom Lektorat nur schusslig oder schon böswillig ist, den Autor so auflaufen zu lassen. Ich schickte Schmidt sofort eine Nachricht, in der ich ihn auf diese Stelle aufmerksam machte. Vielleicht bekamen sie das ja wenigstens in der zweiten Auflage gerichtet, falls sich nicht zu schnell herumspricht, wie es um bestimmte qualitative Aspekte des Buches bestellt ist, und eine solche überhaupt zur Debatte steht.

Bei Seite elf, die mit einem Komma nach dem Wort rausreissen endet, was ein echtes Schmidtwort ist, beendete ich meine Lektüre vorerst und bot der Frau gegenüber eine von meinen Walnüssen an. Sie wollte nicht.

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Bettina Andrae / Dauerhafter Link / Kommentare (4) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Genghis Cohen:

1.) Der Heini auf dem Cover ist ja wohl kaum Schmidt.
2.) In meinem Exemplar steht [...]sollte ich es verlieren, wäre es besser, die nicht dabei zu haben. – Woraus sich die Frage ergibt, ob dem Autoren da etwas Unschönes angehängt werden soll, oder die in der Automobilindustrie übliche Praxis der Rückrufaktionen mittlerweile auch in der Verlagsbranche Einzug gehalten hat.
3.) Für die 6 1/2 Zeilen auf Seite 12, die den ersten Text komplettieren, hat ihre Aufmerksamkeitsspanne nach 4 gelesenen Seiten nicht mehr gereicht?

06.11.2007 / 00:06

Kommentar #2 von Heini:

In allen Exemplaren der 1.Auflage steht korrekt "[...]sollte ich es verlieren, wäre es besser, die nicht dabei zu haben." Eine zweite Auflage wird es trotzdem nicht geben...

07.11.2007 / 14:13

Kommentar #3 von hubi:

...muss ja dann auch nicht sein.

08.11.2007 / 18:19

Kommentar #4 von lele:

Lässt sich ja Zeit mim lesen, die gute Bettina. Dachte, ich wär schon lahm...

09.11.2007 / 17:57