05.11.2007 / 17:17 / Kathrin Passig liest: Alles (von allen)

Virginie Despentes: Baise-moi (5-17)

Ein weiterer Grund, warum die Natur in der Stadt besser ist als auf dem Land: Auf dem Land ist der Sternenhimmel ein verwirrendes Gewimmel von vielen tausend Himmelskörpern. In der Stadt bildet er exakt das ab, was auch auf der Sternkarte zu sehen ist; alle Sterne unterhalb der ungefähr 4. Grössenklasse werden benutzerfreundlich ausgeblendet. (Das mit den Grössenklassen kann man bei Your Sky ausprobieren.)

Nach diesem kurzen Wissensabstecher müssen wir uns tief in die Sümpfe der Ahnungslosigkeit hinabbegeben und das versprochene französische Buch lesen. Drei Schuljahre à sechs Wochenstunden Französisch sind spurlos an mir vorübergezogen, obwohl ich Sprachen schätze wie die Ziege den Salzleckstein. Das liegt daran, dass ich wie alle deutschen Schüler nette Englisch-, aber widerwärtige Französischlehrer hatte, es ist also, wie so oft, die Gesellschaft schuld. Zum Glück erinnere ich mich noch vage an die Buchverfilmung und bin daher fest entschlossen, in den Rorschachflecken der ersten 20 Seiten eine Vergewaltigung zu erkennen.

Auf der ersten Seite guckt eine Frau einen Pornofilm, vorausgesetzt, ein "magnétoscope" ist wirklich ein Videorecorder und kein Instrument aus dem Physiklabor. Jedenfalls ist viel von Urin und Kameras die Rede, eine Kombination, die man schon unter statistischen Gesichtspunkten dem Pornogenre zuordnen kann. Jetzt kommt eine zweite Frau herein. Es scheint, dass sie die Pornographie nicht schätzt, "ça me dégoûte". Wiederbegegnung mit einem schönen Wort, wie konnte ich dégueulasse vergessen? Falle mehrmals auf die Täuschung herein, der Text handle von einer Frau namens Elle. Tatsächlich sind es zwei Frauen, Nadine und Séverine, die aus raisons purement pratiques zusammenwohnen. Séverine ist fondamentalement masochiste, ich weiss nicht, ob ich diese Namenswahl gutheissen soll, aber vielleicht ist Séverine ja der drittgebräuchlichste französische Frauenname und die Autorin trifft keine Schuld. Am Ende des ersten Kapitels onaniert eine der beiden Protagonistinnen, vermutlich erfolgreich. Aus dem Zusammenhang erschlossen: écran, queue, mégot, paume.

Weiter geht es mit einer Frau namens Manu. Wenn "dans le vomi" heisst, was ich vermute, hat Manu nicht viel zu lachen. Sie streitet sich mit jemandem herum, jemand anders ist tot aufgefunden worden. Jemand namens Radouan tritt ein, ach, das ist mir jetzt zu mühsam, denn schon beim Vorblättern sieht man, dass bis zum Ende von Kapitel drei mitnichten vergewaltigt, sondern weiterhin nur herumgeredet wird. Aber wenn ich immer so weiterlesen würde, könnte ich eines Tages Französisch. Eine schöne Vorstellung.

Fundort: Ungelesene Bücher, eigene

Prokrastinationsbuch: 0 von 200 Seiten geschrieben.


Kommentar #1 von ein Lerngeiler:

Alles vergeblich: Wie oft habe ich schon französische Texte aus Spass an der Sprachmelodie laut gelesen, stundenlang, es hat alles nichts geholfen: Als mich in Paris, beim Hinaufgehen einer U-Bahntreppe, ein vorbeieilender Passant fragte: Si vous plaite, messieurs, ques que l'heure?, konnte ich ihn nur dumm und stumm anschauen. Stunden hat es gedauert, bis ich begriffen hatte, durch ständiges memorieren, er wollte nur wissen, wie spät es sei. Die Frage aller Fragen, für einen, der seine Zeit begreifen will.

07.11.2007 / 16:41