05.11.2007 / 11:42 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Evolutionäre Matrix (65-69)


Descartes von hinten. (Bild: Pixelsior.)
Nehmen Sie einmal an, es gibt auf einem Planeten X eine intelligente Spezies Y, die glaubt, die Welt bestehe aus Mengen von grünem Schleim und diese werden durch psychische Geisterkräfte in ihrer Interaktion gesteuert. Die Psychoschleimtheorie der Spezies Y ist so ausgefuchst, dass sie damit perfekt durch's Leben kommt. Auch ihre Sinnesorgane melden den Y-Leuten stets brav "grüner Schleim", die angenommenen Gespensterkräfte sind geschmeidig mit der Wirklichkeit in Einklang und die Y'ler bauen Häuser und Fabriken, fahren unfallfrei mit Schleimvehikeln durch die Landschaft und ihre Schleimgesellschaft brummt. Der Glaube daran, dass die Welt tatsächlich aus grünem Schleim und Gespenstern besteht, ist für das mentale Funktionieren der Spezies Y absolut essentiell. Wenn sie erfahren würden, dass dem nicht so ist, würden ihre mentalen Zustände so gestört, dass sie sich vor lauter Verzweiflung umbringen.

Das könnte für uns doch auch zutreffen. Spezies Mensch lebt auf der Erde, hat seine naturwissenschaftlichen Theorien, sein conceptual framework und seine folk ontology, und die menschlichen Sinnesorgane sind so konstruiert, dass sie auch die passenden Bilder liefern (dass die Bilder falsch sind, kann niemand empirisch überprüfen, da empirische Daten ja durch das Welt-Geist-Interface der Sinnesorgane gefiltert werden, und ein zweites, neutrales Interface haben wir nicht). Alles funktioniert weitestgehend reibungslos und alle sind zufrieden. Aber wenn diese Menschen erfahren würden, wie die Welt wirklich ist, dann könnten sie das gar nicht ertragen, sie würden sich alle umbringen. Und weil die Wirklichkeit so scheusslich und schrecklich ist, hat Mutter Evolution den Menschen diese Täuschung eingebaut, damit uns die Wirklichkeit nicht mit nacktem Arsch ins Gesicht springen kann: Ein eindeutiger Überlebensvorteil. (So wie uns die Evolution auch vorgaukeln könnte, dass das Dasein sinnvoll ist, obwohl es in Wirklichkeit völlig sinnlos ist – damit wir nicht zu einer Spezies aus lauter frustrierten Selbstmördern werden.)

Die Evolution, die uns die Täuschung eingebaut hat: Das ist nur eine andere Paraphrasierung des Descartes'schen genius malignus, des mächtigen Betrügergottes, der uns alle hinters Licht führt und uns glauben macht, die Wirklichkeit sei so, wie wir sie wahrnehmen und uns denken. Und das ist auch kein aus den Fingern gesaugtes modernes Szenario, das hat Descartes selbst in Erwägung gezogen. In der 6. Meditation schreibt er: "Daher gibt es für mich keinen Grund, warum ich nicht durch meine natürliche Anlage selbst bei dem irrte, was mir ganz wahr erschien." (Reclamausgabe, S. 187, Meiner S. 66). – Durch meine natürliche Anlage könnte ich also so massiv irren. Das klingt recht zeitgemäss, ähnliche Fragen werden z.B. heute in der sog. Evolutionären Erkenntnistheorie diskutiert. Da braucht es diesen mittelalterlichen Betrügergott gar nicht mehr im Argument (interessanterweise bringt dieses Naturargument zuerst Gassendi in den 5. Einwänden gegen Descartes [Meinerausgabe, S. 233f.]. Dort grummelt Descartes noch dagegen, in der 6. Meditation hat er es aber übernommen – gefiel ihm dann also doch).

Es kann natürlich auch sein, dass die Welt da draussen überhaupt nur eine substanzlose Fata Morgana ist (auch unser Körper und die anderen Personen, das wäre sehr peinlich), alles vorgegaukelt von einer allmächtigen und verschlagenen Matrix. Es ist alles wie immer, es sieht real aus wie immer, fühlt sich real an wie immer, funktioniert wie immer, an unserer Wahrnehmung hat sich nichts geändert – aber der ontologische Status der Aussenwelt ist ein komplett anderer: Alles ist möglicherweise virtuell. Und all unsere wissenschaftlichen Theorien darüber sind falsch. Ok, das ist nun ziemlich abgedrehte Science Fiction, aber es ist logisch möglich und das reicht für Descartes schon, um es methodisch anzunehmen.

Also: Universaler Zweifel an allem Existierenden und allen naturwissenschaftlichen Wahrheiten. Genauer gesagt: Alle konkreten Entitäten sind weggezweifelt, mitsamt derjenigen Wissenschaften, die sich mit ihnen befassen. Aber was ist mit den abstrakten Entitäten, wie z.B. Zahlen? Und mit Mathematik und Logik, die sich damit beschäftigen? Doch dazu nächstes Mal. Da kommt dann auch eine Stelle im Text, die ich partout nicht verstehe.

(Extraservice für Leute, die die grüne Meinerausgabe haben: Einwände gegen die Erste Meditation finden sich an folgenden Stellen (wenn ich alle gefunden habe, das Zeug ist quer über's Buch verteilt): 4. Einwände (Arnauld): S.195 (Antwort Descartes: S.223/224.); 5. Einwände (Gassendi): S.233/234 (Antwort: S.321f.); 6. Einwände: S.359, Nr.4 (Antwort: S.371); 7. Einwände (Bourdin) + Antworten: S.391-413.)

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Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (1) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Ein Nochskeptiker:

Befürchtung: Am Ende verstehe ich womöglich weder Descartes noch Ruben Schneider?

05.11.2007 / 17:18