04.11.2007 / 15:48 / Ruben Schneider liest: Meditationen (Descartes)

Folk Ontology (1-65)


Zweifellos prachtvoll: René Descartes.
Ich zerstöre jetzt meine bisherigen Meinungen und Überzeugungen. Zuallererst diejenige, dass das Vorwort eines Werkes zum sofortigen Lesen da ist. Ich überblättere die Grussworte von Descartes an die Doktoren der Sorbonne-Fakultät in Paris, die Vorrede an den Leser und die Übersicht über die Meditationen und fange gleich mit der 1. Meditation an – was in diesem Falle eigentlich eine Sauerei ist, denn vor allem auch in der Übersicht über die Meditationen steht sehr Wichtiges, aber das wird vorerst bis zum gegebenen Zeitpunkt warten müssen.

Also, 1. Meditation aufschlagen. Kurz das historische Drumherum zum Einstieg: Frankreich, 1641, René Descartes sitzt mit einer Flasche Rotwein vor seinem Kamin, der barocke Kragen leger geöffnet. Der Vater der Neuzeit wird sich gleich systematisch in die Krise stürzen. Die Philosophie seiner Zeit ist nicht mehr Hort von Gewissheiten, es gibt hunderte verschiedene Lehrmeinungen, wilde Spekulationen, frustrierende Debatten. Michel de Montaigne und Pierre Charron haben die antike Skepsis wiederbelebt, jene These, dass man überhaupt nichts sicher wissen kann. Pedro Calderón hat unlängst sein Drama "Das Leben ist ein Traum" herausgebracht und damit das Lebensgefühl der Zeit getroffen. Auch Descartes merkt, wieviele seiner früheren Meinungen nicht stimmen, an wieviel Mist er von Jugend auf geglaubt hat, wie unsicher sein Weltbild ist. Doch jetzt will er seinen weltanschaulichen Augiasstall einmal gründlich ausmisten. An welchen Überzeugungen kann er zweifeln, was alles könnte Mumpitz sein, was wird am Ende übrigbleiben? Sein Ziel lautet: Radikaler Neuanfang ohne alle Vorgaben. Im Speziellen: Gewissheit der Wissenschaft. Denn damals waren die Naturwissenschaften noch jung und wenig etabliert. Ihre Thesen widersprechen vielfach dem Augenschein und bisherigen Annahmen (Erde kurvt um Sonne, nicht umgekehrt; die Sonne ist grösser, als sie aussieht; es gab mancherlei Eklats, man denke nur an den Galileiprozess, etc.) – so ein komisches Wissenschaftsding, das uns dauernd widerspricht und unsere Weltbilder umkrempelt, das macht nicht sehr zuversichtlich.

Descartes ist ein ziemlicher Systematiker. Er will mit seiner Reflexion über Zweifel und Gewissheit den Weltenbau hinabsteigen bis zum rock bottom, dem Punkt, wo sich der Spaten der Reflexion umbiegt. Dorthin, wo man also etwas in der Hand hat, was wirklich da ist und wirklich so ist, wie man es begreift. Von diesem sicheren Fundament aus will er dann Stück für Stück weitergehen und rational erschliessen, was noch alles sicher existiert. Es geht darum, die Tragfähigkeit unserer alltäglichen folk ontology zu prüfen, und zu zeigen, dass eine durch den Zweifel gereinigte Ontologie keine kulturelle, religiöse oder persönliche Geschmacksfrage mehr ist. Wäre die Ontologie eine reine Geschmacksfrage, dann wären auch die Naturwissenschaften eine reine Geschmacksfrage, da sie auf ontologischen Voraussetzungen aufbauen (z.B.: Es gibt eine physikalische Realität unabhängig von unseren mentalen Zuständen. Die Interaktion der Materie erfolgt aufgrund mathematischer Gesetze. Wir sind in der Lage, diese Gesetze zu erkennen und zu beweisen, etc.).

Das Prinzip, das Decartes anwendet, ist ziemlich pedantisch: Woran man auch nur den geringsten Zweifel anmelden kann, das fliegt raus. Wenn 0,0001% Zweifel möglich sind, dann ist es aus für die betreffende Behauptung. Der Zweifel, der dabei vorgebracht werden darf, unterliegt selbst aber strenger Rationalität. Beliebiges Herumzweifeln ist nicht drin. So ein bequemes Herumgeeier à la "Es könnte ja auch alles ganz anders sein", das zählt für Descartes nicht. Für den Zweifel gilt das Kausalprinzip: Es muss jeweils eine hinreichende mögliche Ursache für den Zweifel aufgezeigt werden (dahinter steckt die interessante und gar nicht so einfach zu beantwortende Frage: Warum können wir eigentlich irren?). Und wenn Sie sich die 1. Meditation schonmal angeguckt haben, wird Ihnen aufgefallen sein, wie schwierig so ein rationaler Zweifel ist. Es ist gar nicht so leicht, alles Mögliche sinnvoll anzuzweifeln, Descartes muss ziemlich schwere Geschütze auffahren (z.B. den genius malignus, das Matrix-Szenario). Doch dazu im nächsten Text, ich brauche jetzt erstmal eine Pause.

Eine Frage gleich zum Vordenken: Wie ist es eigentlich mit den rationalen Gründen für den Zweifel selbst, sind die auch bezweifelbar? Wenn ja, dann wäre das recht misslich für das Unterfangen, denn dann ist der Zweifel bezweifelbar, also obsolet.

Footnote: Hier unten in dem Progress-Balken sind die Seitenzahlen der zweisprachigen Reclam-Ausgabe angegeben.

65 von 229 Seiten

Ruben Schneider / Dauerhafter Link / Kommentare (3) / Buch kaufen und selber lesen


Kommentar #1 von Frau Grasdackel:

Trotzdem noch ein Wort zum Überblätterten. Aus den Grussworten "an die hochgelehrten und weitberühmten Herren, den Dekan und die Dozenten der heiligen theologischen Fakultät zu Paris" kann der eine oder andere Werber der Jetztzeit noch etwas lernen! Zu dem wenigen, an dem Descartes nicht zweifelt, gehören zweifelsohne seine Meditationen. Bei den o.g. Herren biedert er sein Werk, das auf den "gewissesten und schlagendsten Beweisen" gründet, die "...auch derart sind, dass nach meiner Meinung kein Weg dem Menschengeiste offensteht, auf dem sich je bessere finden liessen, es zwingt mich nämlich die in der ganzen Frage liegende strenge Notwendigkeit und der Ruhm Gottes, auf den das alles zu beziehen ist, hier beträchtlich offenmütiger von meiner Leistung zu sprechen als es sonst meine Gewohnheit ist." an. Mangelndes Verständnis für seine Beweise schreibt er von vornherein der Dummheit der meisten Leute zu. Daraufhin erbettelt er vermeintlich unterwürfigst den Schutz der Sorbonne, indem er sie mit der Weisheit der heiligen Konzilien gleichsetzt um dann doch noch mit eigenem geistigen Understatement aufzuwarten, pures Fishing for compliments. Im nächsten Schritt legt er den Mitgliedern der Sorbonne in den Mund, was diese nun öffentlich über seine Schrift zu bezeugen hätten. Sei dies erst geschehen, wird es "keinen mehr auf der Welt geben, der es wagte, die Existenz Gottes oder die reale Verschiedenheit des menschlichen Geistes vom Körper in Zweifel zu ziehen. Wie gross der Nutzen des Erfolgs wäre, könnt Ihr selbst bei Eurer überragenden Weisheit von allen am besten ermessen..." . Die Approbation der Sorbonne hat das Werk trotz allem nicht bekommen. Es kann also mit allen psychologischen Tricks geworben werden, letztendlich zählt doch nur das Produkt. Meistens jedenfalls. Bei manchen Leuten habe ich da so meine Zweifel...

04.11.2007 / 20:36

Kommentar #2 von Ruben:

Vielen Dank, Frau Grasdackel, für diese bezaubernde Zusammenfassung der Vorworte.

04.11.2007 / 20:46

Kommentar #3 von Ein Skeptiker:

Bislang kann ich noch gut folgen und die Argumente nachvollziehen. Das dicke Ende wird wohl noch kommen. Ich bemühe mich, wachsam zu sein und ohne Vorurteile.

04.11.2007 / 20:47