11.06.2010 / 15:37 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Finale Häutung

Klagenfurt wirft seine Kandidaten voraus, und als gewissenhafte Beobachterin bemühe ich mich auch in diesem Jahr, von jedem Kandidaten vorher etwas zu lesen. Ich begann mit A wie Altwasser, Peter Harry, bin mir aber noch nicht sicher, ob ich über A hinauskommen werde. Volker Harry Altwasser wird vermutlich aus seinem am Tag nach dem Wettbewerb erscheinenden DDR-Abwrackroman "Letztes Schweigen" lesen. Weil DDR in Klagenfurt immer gut läuft und der Mann seinen Job ernst nimmt (keine Liebesromane), ist er Preiskandidat. Ausserdem wurde er von Meike Fessmann eingeladen, die bei ihrem Klagenfurtdebüt im vorigen Jahr gleich den 3Sat-Preis gewann.


Gelesen: Volker Harry Altwasser, Letzte Haut
Ich bin schon mittendrin, 1943, der Protagonist befindet sich zur Zeit an der Ostfront, strafversetzt wegen Querulantentum. Es handelt sich um den Richter Dr. Schmelz, einen aufrechten Fachidioten, der immer noch an die Gewaltenteilung und das positive Recht glaubt und zuletzt der SS auf den Wecker fiel, weil er einem ihrer Mitarbeiter Korruption nachweisen wollte.
Der Roman beruht auf der Geschichte des SS-Ermittlungsrichters Georg Konrad Morgen. Der ermittelte ab 1944 im KZ Buchenwald und schaffte es, den früheren Lagerleiter Koch zu überführen. Koch wurde noch 1945 von einem SS-Sondergericht verurteilt und anschliessend hingerichtet.
Die systematische Ermordung der Insassen interessiert Dr. Schmelz bei den Ermittlungen kaum, seine Position: Wenn der Führer das so angeordnet hat, kann er mit juristischen Mitteln da sowieso nichts erreichen. Aber was Recht ist muss Recht bleiben, also beschäftigt er sich mit den Taten, die auch nach Nazirecht strafbar bleiben: Unterschlagung, Veruntreuung und die Ermordung von Häftlingen aus persönlichen Gründen (Mordmerkmale: niedere Beweggründe, Verdecken eines Verbrechens). "Niedere Beweggründe" ist ja auch so ein unscharfer Rechtsbegriff, den Juristen mit dem jeweils aktuellen Geist abgleichen. Zwischen Karrieregeilheit und Rechtspositivismus schlängelt der Mann sich so durch und wird selber zum Mörder – im Dienst seiner Sache.

Nun also Schützengraben, viel Blut, herausquellendes Gedärm und wechselnde Kameraden. Gerade lese ich auf Seite 216 vom "Rottenführer Grass" und vom "Schützen Walser".
Auf Seite 217 und 218 denke ich, wenn Altwasser jetzt mit Kempowski kommt, hört der Spass auf – schon erscheint auf Seite 219 der "Oberschütze Kempowski". Hört aber noch lange nicht auf.
S. 224: "Hauptsturmführer Mann". Ha. Ha. Ha. Bisher gefiel mir das Buch ganz gut.
S. 231: "... Kanonier Köppen, wie der voranschritt." Aha, es scheint also nichts Persönliches zu sein. Ich finde trotzdem, er hätte den Namensgenerator nehmen können oder ein Telefonbuch aus dem vorigen Jahrhundert.
S. 239: "Scharführer Benn, Ohrenarzt im Zivilen."
Wer ist der Nächste, Volker Harry Altwasser? Hat schon jemand einen Tipp?
Ha, hätte man auch drauf kommen können:
S. 240: "Nachdem Stabsscharführer Hesse die Division schneidig und vorschriftsmässig zum Appell vorbereiten hatte, ..." Fehlerchen "vorbereiten" lasse ich mal drin, steht beispielhaft für viele Fehlerchen, 1. Auflage, musste schnell raus? Ärgerlich finde ich den "Erprinz von Waldeck Pymont", der in Wahrheit "Josias zu Waldeck und Pyrmont" hiess – kein Tippfehler, denn das r in Pyrmont fehlt durchgehend. Himmler heisst ja auch nicht Himmr, also was soll das? Vielleicht das Lektorat Mist gebaut mit "alle ersetzen"?

Wenige Stunden später, S. 305: "Ihr Name ist von nun an Altwasser, Harry Altwasser, soweit klar?"

Die Dialoge sind nicht der Rede wert (harhar). Aber ich interessiere mich gerade nicht für die Feinheiten.

Das ist so ein "So-könnte-es-gewesen-sein"-Roman, ein Versuch der Erklärung, wie jemand geworden ist, was er ist. Wie der ehrgeizige Richter, der an die Gewaltenteilung glaubt, am irgendeinem heraushängenden Ende gegen die Vernichtungsmaschine kämpft, ohne sie als solche in Frage zu stellen. Er verliert genau so schnell das Mitleid mit den Opfern, wie er sich vorher an der Ostfront an das Töten gewöhnt hat. Der Bericht von der Front: Ein Versuch der Erklärung, wie unter den Umständen überhaupt jemand überleben konnte. Was das für einer sein muss, der überlebt, während um ihn herum alle draufgehen. Das ist (siehe Dialoge) nicht immer superelegant geschrieben ("kein Thema", "so etwas von egal"), aber Altwasser hat sehr gewissenhaft recherchiert (bzw. recherchieren lassen) und sich bei der Einfühlung in seinen Helden nichts geschenkt, auch keine Geschmacklosigkeit. Aber was soll's: Geschmacksfragen haben die Täter auch nicht geschert. Ordentlich aufgebaut, mit unterschiedlichen Erzählperspektiven, sachdienliche Hinweise zu den Geschehnissen im übrigen Kriegsgebiet. Das tröstet mich gerade über die Albernheit mit den Autorennamen hinweg. Vermutlich auch über meine kleine Krise auf Seite 311, ausgelöst durch eine Slapstick-Szene, in der der Held Dr. Schmelz eine heisse Leiter hoch klettert und an einem Förderband nein. Das will ich nicht nacherzählen.
Unnötig unappetitlich die Rahmengeschichte, in der der alte Dr. Schmelz sich 1982, allein in seiner Wohnung, erinnert, schuldig fühlt und sich dafür büssen lässt. Die Sache mit der Haut.

Pro: Den Autor hat die Geschichte und die Figur wirklich interessiert. Contra: Krankheit/Haut als zu Tode gerittene Metapher.


01.02.2008 / 16:37 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Primadonna quasi assoluta

1990 las Alain Claude Sulzer "Am Arm des Apothekers"

"Mezzosopranistin" (Papier, Tesa, Filzstift) von K. Leinen
Karl Corino, der sich im letzten Jahr durch Pamp (Verweigerung bei PeterLicht) und Trotz (über die Schmähung seines Kandidaten Björn Kern) in den Schmollwinkel manövrierte (Zusammenfassung), war 1990 auch schon Juror. Zu "Klagenfurter Texte 1990" schrieb er ein Vorwort: "... obwohl ich einräume, dass einem schon die sich hin und wieder ergebende 'Minderheitsposition' in der Jury erheblich zu schaffen machen kann." In Optiker-Fragen kannte er sich aber sicher aus. Wenn Sulzer nicht sein Kandidat war, wird er ihn getadelt haben.

Inhalt: Die "berühmteste Sängerin der Welt" lebt im Alter im Badezimmer ihrer Pariser Wohnung, in Einsamkeit denkt sie zurück an sich selber mit 13. Ohne Brille tapste sie am Arm ihres Vaters, des Apothekers, in (induziert) die Opera Colon in Buenos Aires, in der sie dann 18 Jahr später ihr Debüt gab.

Beginn (kleiner Ausschnitt aus dem zweiten Satz):

... Nun aber sass sie in ihrem geräumigen Badezimmer, die Beine übergeschlagen, die Augen hinter dicken, stark gewölbten Gläsern wie durch zwei Lupen vergrössert, ... und starrte auf die Tonbänder zu ihren Füssen...

Sulzer erzählt so dicht an Maria Callas entlang, dass er auch ihre wirklichen Lebensdaten hätte nehmen können. Ein paar Änderungen zwischen New York, Athen und Buenos Aires, was soll's. "Sie war so kurzsichtig, dass sie nun, ohne Brille, ihre Umgebung ... lediglich in Umrissen erahnte" – stimmt. Nur verkleinern die Brillen gegen Kurzsichtigkeit die Augen.

Dann erfahren wir, dass so ein Sängerleben nicht immer so glitzy ist wie in dem Moment, in dem die Diva sich Norma fühlt – wir ahnten es.

Maria Callas starb im September 1977 in Paris. Ich war neun und hatte begonnen, donnerstags den Stern zu durchblättern. Kurz vor Deutscher Herbst und dem Tod von Elvis Presley wird darin auch ein grosser "Die Diva starb einsam"-Artikel gestanden haben. Ich erinnere mich, schon als Kind bebilderte Berichte gelesen zu haben über Tabletten und den Alten mit den Tankern, Bilder einer stark geschminkten Frau, mal dick und jung, mal älter und dünn.

Ausser dass Sulzer ihr die Brille umgedreht hat, erfahre ich nichts Neues. Aber muss das? Mich erinnert es an Stefan Zweig. Nichts gegen Stefan Zweig, "Sternstunden der Menschheit" ist immer noch ein prima Konfirmationsgeschenk. Zweig aber schrieb die bunten Bilder zu nicht fotografierten Ereignissen. In einem Band: "Dunkle Stunden der Kunst" wäre Sulzers Erzählung gut aufgehoben. Makellos unmodern formuliert, sauber aufgebaut, einwandfreie Rückblenden. Um es interessant zu machen, hätte der vornehme Sulzer aber viel indiskreter mit Frau Callas umgehen müssen. Oder sich eine eigene Sängerin erfinden.

Prädikat: Bei lobenswerter Ich-Enthaltsamkeit leider unergiebig.

Texte aus 8 von 30 Jahren gelesen.


1978, 1980, 1981, 1991, 1996, 1999, 2005


10.01.2008 / 14:31 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Statutendämmerung


Nach Sieg ausgeschieden
Auf meine eigenen Statuten pfeife ich sowieso, und auch die in Klagenfurt werden immer mal geändert. Dieses Jahr gibt es nur noch 7 Juroren (zwei weniger als in den Vorjahren), und weil jeder Juror zwei Autoren einlädt, werden auch nur 14 statt 18 Texte vorgelesen. Radisch, Rakusa, Ebel und Corino sind raus. Burkhard Spinnen kehrt als Vorsitzender in die Jury zurück, Alain Claude Sulzer kommt neu hinzu.

1990 hat Sulzer als Autor teilgenommen, kam aber mit "Am Arm des Apothekers" nicht in die Nähe eines Preises. Er kann aber nicht total verkackt haben, sonst wäre sein Text nicht in "Klagenfurter Texte 1990" aufgenommen worden. Damals lasen 22 Autoren um sechs Preise. Heuer (Benutzung des Wortes "heuer" als Einstimmung auf Österreich) sind es 14 auf 5. Damals bekam also nicht mal jeder Vierte einen Preis, unter den heurigen Teilnehmern sollte es jeder Dritte sein. Wer da ohne Preis nach Hause muss, ist wirklich geprügelt.

Weitere Änderung bei Bachmann 2.0: Der 3sat-Preis wird 2008 für den innovativsten Text vergeben. Frage 1: Kann der 3sat-Preis nun neben Bachmann-, Willner- und Telefonpreis gegeben werden, sind also zwei (bzw. mit dem Publikumspreis drei) Preise für denselben Autor möglich? Oder hat etwa, wer den innovativsten Text vorliest, damit automatisch keine Chance mehr auf den Bachmannpreis? Ist es etwa ausgeschlossen, dass der innovativste Text zugleich der beste ist? Nein, denn das war zum Beispiel so, als Ulrich Plenzdorf mit "kein runter kein fern" 1980 gewann.

Frage 2: Was ist innovativ? Die Negierung der Ortographie, das Herumwerfen von Papier, "was mit Medien" zu machen, "lebende Fische verspeisen" (Vorschlag Kai Schreiber) oder 14 weisse Seiten vorzuschweigen? Die Anwendung von Maultrommeln, trotz Ringsgwandl und Bodo Hell? Oder wird zu innovativ erklärt, was die Juroren früher schon mit dem 3sat-Preis bedachten? Irgendwas halt, was für Bachmann nicht reichte, aber doch besser war als der meiste andere selbstreferentielle Quark.

Als Abfallprodukt meiner Bachmannpreisforschungen vorab die aktuelle Rangliste der Juroren nach Preisen und Shortlist-Kandidaten:

1. Ursula März (Jury seit 2003): 5 Preise, 8 Kandidaten1
2. Burkhard Spinnen (2000, nicht 2007): 4 Preise, 6 Kandidaten2
3. Daniela Strigl (2003): 2 Preise, 5 Kandidaten 3
4. Klaus Nüchtern (20034): 2 Preise, 3 Kandidaten4
5. Ijoma Mangold (2007): 1 Preis, 1 Kandidat5
6. André Vladimir Heiz (2007): 0 Preise, 0 Kandidaten
7. Alain Claude Sulzer: 0 Preise

Aus dem Rennen sind Iris Radisch (6/7)6, 2007 durch Hattrick überraschend an März vorbeigezogen, und Ilma Rakusa (5/7)7. Ebel war sowieso chancenlos.

Das zur Einleitung. Den Text von Sulzer lese ich morgen.

1Preise: 2003 Inka Parei/Bachmann und Publikum und Feridun Zaimoglu/Jury, 2005 Anne Weber/3 Sat, 2006 Angelika Overath/Willner
Shortlist: 2006 Clemens Meyer, 2007 Silke Scheuermann und Jochen Schmidt

2Preise: 2005 Thomas Lang/Bachmann, 2004 Arne Ross/Jury, 2004 Simona Sabato/Willner, 1992 selbst Stipendium der Kärntner Industrie
Shortlist: 2003 Gregor Hens, 2006 Thomas Melle

3Preise: 2006 Kathrin Passig/ Bachmann und Publikum,
Shortlist: 2003 Olga Flor, 2004 Thomas Raab und Richard David Precht, 2007 Michael Stavaric

4Preise: 2004 Wolfgang Herrndorf/Publikum, 2005 Natalie Balkow/Willner
Shortlist: 2005 Kristof Magnusson

5Preis: 2007 Jan Böttcher/Ernst Willner

6Preise: 2005 Julia Schoch/Jury, 2004 Guy Helminger/3Sat, 2006 Norbert Scheuer/3Sat, 2007 Thomas Stangl/Telekom und PeterLicht/3Sat und Publikum
Kandidaten: 2003 Lukas Hammerstein, 2006 Paul Brodowsky 2006

7Preise: 2004 Uwe Tellkamp/Bachmann, 2003 Farhad Showgi/3Sat, 2005 Sascha Stanisic/Publikum, 2006 Bodo Hell/Telekom Austria vormals Jury, 2007 Lutz Seiler/Bachmann
Kandidaten: 2004 Andreas Münzner, 2006 Kevin Vennemann


Texte aus 7 von 30 Jahren gelesen.


1978, 1980, 1981, 1991, 1996, 1999, 2005


25.12.2007 / 09:32 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Erziehung zum Sozialismus

1978 las Helga Schütz aus dem Roman "Julia oder Erziehung zum Chorgesang".

Recycling, postsozialistisch
Ich hatte ein paar "Kinder von Golzow"-Filme gesehen, da übten die Zehnjährigen die "Kinderhymne" von Brecht/Eisler (reinhören dort). Ein paar Tage später saß ich frierend auf dem Chorpodest im Kölner Dom und sonder Maß ohrwürmte es mir: "Weihrauch sparet nicht noch Myrrhe, Kyrie nicht Hochgesang". Quasi im Tabernakel lag der nächste Text bereit: Chorgesang und frühe DDR.

Wenn DDR-Autoren nach Klagenfurt ausreisen durften, was nicht immer der Fall war, gewannen sie meistens auch einen Preis. Sie taten gut daran, das Geld an Ort und Stelle zu verjubeln, sonst drohte Zwangsumtausch. Ulrich Plenzdorf gewann 1978 mit "kein runter kein fern" den Bachmannpreis (100.000 ÖSchi), das kannte ich aber schon. Helga Schütz ging knapp leer aus, DDR war vielleicht aufgebraucht, schließlich waren auch noch die Schweizer und die Westdeutschen zu berücksichtigen. Viel 70er schwappte 1978 durch die Texte: Hannelies Taschau ("Mein Körper warnt mich vor jedem Wort") reagiert auf die Selbstmorde in Stammheim, Hanns-Josef Ortheil ("Der Weg, der Fermer nach Seebüll führte") lässt seinen Helden vom Wehrdienst desertieren, Ursula Krechel ("Zucker, die Lähmung der Moleküle") wohnt in einer WG und hat was mit ihrem Professor, Angelika Mechtel ("Aufzeichnungen über eine Reise zu Felix") reist einem spanischen Dissidenten hinterher (der: tot). Die meisten Protagonisten sind Studenten. Und die Schweizerin Gertrud Leutenegger gewann den Preis der Jury für einen Text, in dem ein weisser Clown auf einem Fahrrad durch Zürich fährt ("Zürich oder Immer wieder ist Atlantis in Gefahr") – Rosina Wachtmeister lässt grüßen.

Helga Schütz dagegen: Um 1960 in der noch jungen DDR.

Liebe Julia! Abitur, ja, was ist denn das für ein Beruf und bist du dann was gebessert als in der Baumschule? Inge Sohla hat eine schöne Stelle im Wasserwerk als selbständiger Betriebsgärtner. Du musst es ja wissen.

Julia, als Kind mit den Eltern von Schlesien nach Sachsen gekommen, zieht vom sächsischen Dorf nach Potsdam, um statt Gärtnerlehre Abitur zu machen. Eigentlich will sie Sängerin werden, im Chor lernt sie Noten.
Leipzig 2007
Sozialistische Nebenwirkungen der Ausbildung: Mit zwei Mitschülern muss sie "ein Schiebernest" ausheben, den kleinen Laden einer Frau Reichelt. Deren Bild hängt später als Mahnmal am Konsum-Kaufhaus: "Legt den Schiebern und Spekulanten das Handwerk". Julia zweifelt: "Liebe Frau Reichelt, bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie ausgehoben habe. Punkt."

Später warnt Julia einen Lehrer, der ein Agent sein soll, denn "Er hat sich von seinen Schwiegereltern ein Paar Schuhe kaufen lassen und war selber mit drüben im Westen bei Leiser, um die Schuhe zu probieren." Außerdem habe er ein Arbeiterkind "mit einer Fünf in Geschichte ausgestattet".

Das ist sehr schön und sauber erzählt. Keine lästige Verliebtheit in die Figur, obwohl Helga Schütz ihr eigenes Leben abbildet. Gute Namen: Julia, Leupold, Ebert, Pagel. Verliebt in den Lehrer, Systemkritik, Schikane und Misstrauen: Alles drin. Interessieren würde mich, ob die Autorin Haue vom Staat dafür bekam. Ob Klagenfurt-Kandidaten vorher anmelden mussten, was sie zu lesen gedächten. Denn auch Plenzdorfs Text ist unfreundlich gegen den Arbeiter- und Bauernstaat. Beide protestierten 1976 gegen die Ausbürgerung Biermanns, ihre Texte wurden nicht alle im Osten gedruckt.

Am Ende Schülerkino, Julia verlässt vor der Zeit die Aula.

Jetzt, in dieser schwierigen Lage. jetzt, wo die Partei nicht ein noch aus weiss, verlassen Sie eine sowjetische Filmvorführung. Wenn auch leise ... Mir fällt dazu nichts ein, außer daß es ein langweiliger Film war. Ich habe mich gelangweilt.

Prädikat: Historisch wertvoll, "Ich ist der Autor" hier mal gelungen. Werde das Buch kaufen.

1978 war übrigens das Jahr der Sitzenbleiber: 10 der 25 Teilnehmer versuchten es später wieder, darunter die späteren Bachmann-Preisträger Erica Pedretti (1984) und Hermann Burger (1985). Zuletzt trauten sich das jeweils erfolglos Artur Becker (2001 und 2004) und Dirk von Petersdorff (1993 und 2006).

Texte aus 7 von 30 Jahren gelesen.



1978, 1980, 1981, 1991, 1996, 1999, 2005


04.12.2007 / 23:43 / Angela Leinen liest: Klagenfurttexte

Frühvollendet

2005 las Susanne Heinrich "DIE FRAGE, WER ANFÄNGT"

Für Nachwuchsautoren
Wegen der Statuten (innere Unveröffentlichtheit) wähle ich aus 2005 den Text der damals 20-jährigen Susanne Heinrich. Ich war auf dem Flug nach Klagenfurt, als sie las, und hatte später kein Bedürfnis, den Text nachzulesen. Trotzdem schrieb ich mal anderswo was dazu ins Netz und bekomme dafür bis heute Googleanfragen nach "iris radisch ficken". Text, Portrait, und Lesung.

Aus Langeweile streiche ich beim Lesen an: Etwa 350 mal icht, micht und meint Susanne Heinrich in ihrem Text so jugendlich herum. Es gibt ja zwei Arten von Ich-Texten, die "Ich bin der Autor"-Texte und die "Ich ist ein Anderer"-Texte. Beispiel für die erste: Esra – Adam ist Biller. Für die zweite: Moby Dick – "Call me Ismael" ist nicht Melville. Die Kategorien fransen an den Rändern oft aus, zum Beispiel nach: "Ich wäre der Autor gerne", und dessen verdächtige ich Heinrich. Gönne mir Gröbern: Ich nehme die Autorin Susanne Heinrich für ihre Figur.

Inhalt: Ich ist Luna. Luna wohnt mit Leander, fickt aber nicht mit ihm, sondern neuerdings mit Mirko. Nach ein paar mal Ficken merkt sie, dass sie sich doch lieber in Leander verlieben will. Luna hat einen glitzy Beruf (Schauspielerin). Luna ist total faszinierend, das sagt ihr einer, "der bis zwei Stunden nach der Vorstellung auf mich gewartet hat, um ... mir zu sagen, wie faszinierend er mich findet..". Sie ist auch sehr ernst und reif ("Wir sind tief und kompliziert heute morgen..."). Und natürlich hat sie einen poetischen Namen, der richtige Mann hat auch einen, nur der Falsche muss ganz ostig "Mirko" heißen. Stilmittel: Too-muchism.

Vorbildlich bescheidener Namensgeber dagegen ein anderer frühvollendeter Autor:
"Erich Sommer, seine Frau Hilde und seine drei Kinder, Horst, Rudi und Heidi." schrieb der damals 20-jährige Franz Müntefering in seinem Text "Die Frau des Säufers" (Link zur Hörfassung).
Inhalt: Ich ist Hilde. Die lässt den Mann die Kinder prügeln, wenn auch ungern, und beklagt sich, dass die dann die ganze Nacht flennen. Bedauert, obwohl selbst im Dreck sich wälzend, die arme Nachbarin Frau Keisen, deren Mann tot ist, und die noch nicht mal einen Fernseher hat. Dabei hätte sie selber lieber einen toten Mann und mehr Freude am Fernseher, wenn der bezahlt wäre. Sunderner Realismus.

Die Texte haben augenfällige Gemeinsamkeiten. Beide beginnen mit "Zwei...".
Müntefering: "Zwei Zimmer und ein Bad."
Heinrich: "Zwei Zigaretten später liege ich auf ihm und weiß nicht, wie ich dahin gekommen bin."
In beiden Texten raucht eine Frau im Bett.
Müntefering: "Hilde liegt im Bett. ... Jetzt raucht sie eine Zigarette."
Heinrich: "Wir rauchen beim Ficken."

Müntefering ist ökonomisch: Nach zwei Seiten ist Schluss. Luna dagegen nervt. Sie nervt, weil sie keine Gelegenheit auslässt, auch überflüssige Ich's zu schreiben. Füllsel wie "ich bin sicher", Wiederholungen "er erzählt mir, ..., er erzählt mir, ..., er erzählt mir" statt schlichtem "er sagt" oder "er erzählt", und Ich-Gewitterchen wie: "... wenn er weiß, was ich sagen werde, weil ich weiterrede, obwohl ich weiß, dass er weiß, was ich sagen werde, weil das so ist und nur hier so sein kann und weil ich niemals aufhören will, mich Leander zu erzählen." Zehn weitere Seiten erzählt sie sich uns. "Die Stadt macht mir klar, dass sie nichts mit mir zu tun hat." Ich verstehe diese Stadt.

Wertung: Jugendlich. Iris Radisch fand "rauchen beim Ficken" toll, fühlte sich sonst aber wie Ursula März auch zu alt für den Text. Jury-Diskussion.

Texte aus 6 von 30 Jahren gelesen.



1980, 1981, 1991, 1996, 1999, 2005

(Übrigens wurde Münteferings literarische Karriere stellvertretend von seiner Tochter Miriam wieder aufgenommen. Die schreibt lesbische Liebesromane. Ihre Figuren heißen Emma, Michelin, Karolin, Pe, Frederike, Madita, Martje und Luna. Dann doch lieber Horst und Hilde.)


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